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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede

© Foto: Reuters/Michele Tantussi

Mutmachrede an die Nation: Steinmeier scheut die eigene Vergangenheitsbewältigung

Der Bundespräsident deklariert den 24. Februar zum Tag des „Epochenbruchs“. Damit wird die Vorgeschichte von Russlands Angriff auf die Ukraine verdrängt.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Es war einmal ein glückliches Deutschland. Es war stark, modern und global vernetzt. „Dann kam der 24. Februar“, der Überfall Russlands auf die Ukraine. Dieses Datum markiert einen „Epochenbruch“, der die „tiefste Krise“ zur Folge hat, „die unser wiedervereintes Deutschland erlebt“.

Das ist die Zeitrechnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Am 13. Februar war Steinmeier wiedergewählt worden, elf Tage danach brach auch für ihn eine Welt zusammen.

Acht Monate sind seitdem vergangen. Nun wendet er sich an die Nation, will Mut machen und Zuversicht verbreiten, „alles stärken, was uns verbindet“, wie der Titel seiner Rede heißt.

Er will Brücken schlagen zwischen Jung und Alt, Ost und West, Stadt und Land. Er fordert Konfliktfähigkeit und Widerstandskraft. Er wendet sich gegen einen Scheinfrieden in der Ukraine, der Putins Landraub besiegelt. Das sind starke, pointierte Passagen.

Dabei ist Steinmeier immer noch auf der Suche nach diesem einen prägenden Begriff, der hängen bleibt im Bewusstsein seiner Landsleute. Nach dem „Ruck, der durch Deutschland gehen muss“ von Roman Herzog, dem „versöhnen statt spalten“ von Johannes Rau, dem „der Islam gehört zu Deutschland“ von Christian Wulff, dem „Dunkeldeutschland“ von Joachim Gauck. Was verbinden Deutsche mit Steinmeier? Eine Antwort auf diese Frage steht weiter aus.

Etwas stimmt nicht an der Rede

Steinmeiers Rede ist eine Standortbestimmung Deutschlands in den Multi-Krisen aus Ukrainekrieg, Energiepreisen, Inflation und Klimawandel. Steinmeier verteidigt die Politik der Bundesregierung – die Modernisierung der Bundeswehr, die Waffenlieferungen, die Sanktionen.

Politisch brisant ist sein Appell an „reiche Menschen“, einen Beitrag zu leisten, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Das klingt nach Vermögenssteuer.

Alles, was der Bundespräsident sagt, ist richtig. Trotzdem stimmt etwas nicht. Das hat mit seiner Zeitrechnung, dem „Epochenbruch“ am 24. Februar zu tun. Verdrängt wird in dieser Lesart die Vorgeschichte, werden die eigenen Fehler und Verstrickungen, die Illusionen und Fehleinschätzungen. Wer den 24. Februar zum „Epochenbruch“ deklariert, will sich womöglich auch selbst exkulpieren. In die falsche deutsche Russlandpolitik war Steinmeier maßgeblich involviert.

Im Jahr 2007 wurden die russischen Oppositionellen Anna Politkowskaja und Alexander Litwinenko ermordet. Steinmeier wiegelte ab: „Es gibt einen gewissen Trend zur Hysterie in den Medien.“

Ein Jahr später, 2008, folgte der Krieg Russlands gegen Georgien. 2014 wurde die Krim annektiert, seitdem unterstützt Moskau Separatisten in der Ostukraine.

Lange vor dem 24. Februar ließ Wladimir Putin Cyberangriffe gegen westliche Institutionen führen, er umarmte Syriens Baschar al-Assad, finanzierte rechtspopulistische Bewegungen in Europa. Geld genug hatte er, dank der Einnahmen durch seine Energieexporte nach Deutschland.

Ja, es stimmt: Steinmeier hat sich im April zu Fehlern in der Russland-Politik bekannt. Nun aber wäre es in einer Rede, in der es um Verzicht geht und um härtere Jahre, möglich gewesen, all jene um Entschuldigung zu bitten, die von den Folgen der falschen deutschen Russland-Politik betroffen sind: Ukrainer, Osteuropäer, Deutsche, die ihre Stromrechnung nicht bezahlen können. Eine Mutmachrede ohne Vergangenheitsbewältigung zeugt von fehlendem eigenen Mut.

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