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Rauch steigt nach israelischen Angriffen über Chan Junis auf.

© dpa/Mohammed Dahman

Elite-Truppe in Chan Junis : Die 98. Division der israelischen Armee auf der Jagd nach der Hamas-Spitze

Seit kurzem führt die Eliteeinheit den Kampf gegen die Hamas im Süden Gazas an. Was macht sie aus und wie kommt Israel voran? Ein Militäranalyst schätzt die Lage ein.

Chan Junis ist zu dem vielleicht wichtigsten Ort im Gaza-Krieg geworden. Dort, in der Region der zweitgrößten Stadt des Küstenstreifens, vermutet die israelische Armee die Führungsspitze der Hamas, darunter deren Chef Yahya Sinwar, dessen Bruder Muhammad Sinwar sowie Mohammed Deif. Allesamt sind dort aufgewachsen – in einer Gegend, die vor Beginn des Krieges mitsamt einem Flüchtlingslager rund 230.000 Einwohner hatte.

„Chan Junis ist mehr oder weniger das entscheidende militärische Zentrum der Hamas und ihrer politischen Führung im Gazastreifen“, sagt der Militäranalyst Kobi Michael dem Tagesspiegel. Er ist Militäranalyst am Institut für Nationale Sicherheitsstrategie (INSS) in Tel Aviv, Oberstleutnant der israelischen Streitkräfte (IDF) und stand zwischenzeitlich an der Spitze der Palästinenser-Abteilung im Nationalen Sicherheitsrat Israels.

Spezialkommandoeinheit mit Fallschirmjägern

Seit dem Ende der Feuerpause vor zwei Wochen konzentriert sich die israelische Armee nicht mehr nur auf den Norden, sondern auch verstärkt auf den Süden des Gazastreifens, wo Chan Junis liegt. Um die Intervention dort voranzutreiben, hat die israelische Armee eine ihrer fähigsten Einheiten geschickt: Seit Anfang Dezember führt die 98. Division die Bodenoffensive im Süden Gazas an.

Sie steht unter dem Kommando von Dan Goldfuss und setzt sich aus Fallschirmjägern zusammen, die sowohl aus dem stehenden Heer als auch aus der Reserve kommen. Komplettiert wird sie israelischen Medien zufolge durch die Kommando-Brigade und ein Elite-Artillerieregiment. Sie ist nun eine von vier IDF-Divisionen, die im Gazastreifen operieren.

Kobi Michael ist Militäranalyst am Institut für Nationale Sicherheitsstrategie (INSS) in Tel Aviv, Oberstleutnant der israelischen Streitkräfte (IDF) und stand zwischenzeitlich an der Spitze der Palästinenser-Abteilung im Nationalen Sicherheitsrat Israels. 
Kobi Michael ist Militäranalyst am Institut für Nationale Sicherheitsstrategie (INSS) in Tel Aviv, Oberstleutnant der israelischen Streitkräfte (IDF) und stand zwischenzeitlich an der Spitze der Palästinenser-Abteilung im Nationalen Sicherheitsrat Israels. 

© INSS

Und: „Sie ist eine der besten Divisionen, die die IDF haben“, sagt Kobi Michael. Die Spezialkommandoeinheit habe einzigartige Fähigkeiten und sei mit Soldaten besetzt, die viel Expertise in der Kriegsführung jenseits von Israels Grenzen, „auf feindlichem Boden“, hätten.

Wie der ganze Gazastreifen ist auch Chan Junis von einem Tunnelsystem durchzogen. Und auch dort konzentrierten sich die Terroristen darauf, zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Moscheen als militärisches Gelände zu missbrauchen, so Michael. „Die IDF müssen also sehr vorsichtig agieren, um das humanitäre Völkerrecht einzuhalten und die Zahl der zivilen Opfer zu minimieren.“ Deshalb würden immer wieder Menschen vorgewarnt, evakuiert und dazu aufgerufen, bestimmte Gegenden zu verlassen.

Trotzdem sollen seit dem Massaker mit 1200 Toten, das palästinensische Terroristen am 7. Oktober in Israel angerichtet haben, bereits mehr als 18.000 Menschen im Gazastreifen ums Leben gekommen sein. Die Zahl stammt zwar von dem von der Hamas geführten Gesundheitsministerium, Autoren einer Studie, die in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht wurde, gehen jedoch davon aus, dass die Angaben bislang ungefähr stimmen.

Anders als etwa Gaza-Stadt, sagt Michael, sei Chan Junis nicht ganz so dicht besiedelt, mit Ausnahme der Flüchtlingscamps um die Stadt herum. Schritt für Schritt werden die IDF die militärische Infrastruktur der Hamas zerschlagen, sagt er. Immer wieder war in den vergangenen Tagen bereits von erbitterten Häuserkämpfen in Chan Junis berichtet worden.

Michael sieht große Fortschritte

Der Militäranalyst bescheinigt den IDF insgesamt sehr gute Fortschritte seit dem Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober. Die Hamas verliere nach und nach die Kontrolle über den Gazastreifen, wichtige Infrastruktur wurde zerstört. Auch die Raketenangriffe auf Israel würden weniger. Zudem hatten sich in den vergangenen Tagen vermehrt Terroristen ergeben. Die IDF sprachen zuletzt von mehr als 7000 getöteten Terroristen seit Beginn der Offensive. Insgesamt werden der Terrororganisation aber bis zu 30.000 Kämpfer zugerechnet.

Es geht nur darum, die militärischen und politischen Kapazitäten der Hamas zu zerstören, und diese Ziele sind erreichbar.

Kobi Michael, israelischer Militäranalyst

Hinzu kommt, dass die Hamas auch in der Zivilbevölkerung trotz der Gräueltaten vom 7. Oktober, weiterhin sehr beliebt zu sein scheint. Immerhin 57 Prozent der Bevölkerung des Küstenstreifens befürworteten das Massaker in Israel in einer Umfrage, die das als seriös geltende palästinensischen Umfrageinstituts PSR vor einigen Tagen veröffentlicht hatte. Im Westjordanland lag der Wert sogar bei 82 Prozent.

Immer wieder gibt es deshalb Zweifel daran, dass die Hamas überhaupt vollständig besiegt werden kann. Der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Yuval Diskin, etwa sagte dem „Spiegel“ vor einigen Tagen, Israel werde nach dem Krieg vielleicht den Norden kontrollieren, „aber im Süden des Gazastreifens wird die Hamas wohl überleben“.

Ein Problem bleibt die ideologische Verwurzelung

Was die ideologische Verwurzelung angeht, gibt Michael dem Ex-Shin-Bet-Chef recht. „Die Hamas ist die beliebteste Bewegung im Gazastreifen und im Westjordanland – und das trotz der Gräueltaten vom 7. Oktober“, sagt der Militäranalyst. „Viele glauben nach wie vor an die Idee, Israel müsse von der Landkarte getilgt und die Juden abgeschlachtet werden.“ Diese Ideologie könne man nicht mit militärischen Mitteln zerstören. Also sei noch ein langer Weg zu gehen, um die Bevölkerung zu dehamasifizieren. Aber das sei nicht das Ziel des aktuellen Krieges. „Es geht nur darum, die militärischen und politischen Kapazitäten der Hamas zu zerstören, und diese Ziele sind erreichbar.“

Er habe den Eindruck, dass viele Hamas-Terroristen immer noch denken, dass sie überleben und weiterhin eine militärische und regierende Macht im Gazastreifen bleiben werden. „Aber ich denke, dass sie damit falsch liegen“, so der Stratege. Gleichwohl schränkt er ein, dass ein Kollaps der Hamas nicht gleichbedeutend damit sei, dass sie über keinerlei Terrorinfrastruktur oder Raketen mehr verfügen werde. Sie müsse vielmehr zu einer marginalisierten Gruppe im Gazastreifen dezimiert werden, so Michael.

Dafür müssen die IDF sie auch in deren Tunnelsystemen bekämpfen. Seit einigen Tagen sprengt das Militär diese nicht mehr nur, sondern flutet sie auch. Aber könnten dabei nicht auch israelische Geiseln ums Leben kommen? „Ich denke, dass die IDF sehr gut über die Aufenthaltsorte der Geiseln Bescheid wissen“, so Michael. Die Tunnel, die zerstört würden, auf welche Art auch immer, seien nur solche, bei denen die IDF sicher seien, dass dort keine Geiseln sind.

Insgesamt aber bringen die Geiseln Israel in eine ernste Lage, sagt er. Ihr Leben habe Priorität. Allen voran viele Angehörige sind allerdings in Sorge, dass die Kampfhandlungen Israels die Geiseln gefährden. Michael glaubt jedoch: In erster Linie erhöhe militärischer Druck die Chancen, sie zu befreien. Dafür könnte die 98. Division jedenfalls am richtigen Ort sein. Die IDF gehen davon aus, dass viele der verbliebenen Geiseln in der Region Chan Junis festgehalten werden.

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