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Wie geht es weiter in Israel und Gaza? (Illustration)

© Gestaltung: Tagesspiegel; freepik

Es geht nicht nur um Gaza, es geht ums Ganze : Was soll nach dem Krieg kommen?

Israel will die Geiseln befreien und die Hamas zerstören. Beides ist nicht in Sicht. Könnte die aktuelle Gewalt ein Katalysator für etwas Gutes sein – wie der Jom-Kippur- oder der Irak-Krieg?

Ein Gastbeitrag von Shimon Stein und Moshe Zimmermann

Mit Nachdruck stellt sich jetzt, mehr als zwei Monate nach dem Überfall der Hamas auf israelisches Territorium am 7. Oktober und dem Beginn des neuen Gaza-Krieges, die Frage: Welche der israelischen Kriegsziele sind in Reichweite gerückt, welche werden sich erfüllen lassen?

Als der Krieg ausbrach, nannte Premier Benjamin Netanjahu drei Punkte, die erreicht werden müssten: die Freilassung der Geiseln, die Zerschlagung der Hamas und das Ende der potenziellen Bedrohung Israels aus dem Gaza-Streifen heraus.

Aber bis heute befinden sich von den anfangs 240 entführten Menschen noch immer 135 in Geiselhaft – und wie viele von ihnen noch am Leben sind, weiß niemand. Israels Militär scheint seit Kriegsbeginn zwar die Kontrolle über den Gazastreifen ausweiten zu können, aber es zahlt dafür einen hohen Preis: Viele seiner Soldaten wurden verletzt und getötet.

Nicht zu vergessen sind auch die 200.000 Israelis, die entlang der Grenze zu Gaza oder zum Libanon lebten und dem Pogrom am 7. Oktober entkamen. Sie sind heute Flüchtlinge im eigenen Land. Und in Gaza starben seit Kriegsbeginn Tausende Palästinenser, und das vor allem, weil die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschild einsetzt.

Trotzdem ist Israel noch lange nicht am von Netanjahu vorgegebenen und mehrfach wiederholten Ziel angekommen, die Machtposition der Hamas in Gaza zu zerstören.

Sind Netanjahus Ziele überhaupt erreichbar?

Wie lange kann der Krieg im bisherigen Format noch dauern, oder besser: Wie lange darf er dauern? Denn auch Amerika wird, aus politischen Erwägungen und angesichts der humanitären Katastophe in Gaza, das Zeitfenster nicht ohne Ende offenhalten können.

Sind die von Netanjahu deklarierten Ziele so überhaupt erreichbar? Auf diese Fragen gibt es zwar Kampfparolen und Durchhalteansagen, aber keine klaren Antworten. Ein Zermürbungskrieg allerdings – das Beispiel Ukraine zeigt es deutlich – kann Israel nur schaden. Den würde am Ende der Iran als Erfolg für sich verbuchen.  

Eins steht jedenfalls fest: Mit Blick auf Gaza muss ‘am Tag danach’ die Sicherheit für Israel garantiert werden – und ebenso die Regierbarkeit und der Wiederaufbau von Gaza.

Shimon Stein und Moshe Zimmermann

Von Tag zu Tag wächst derweil die schreckliche Gewissheit, dass sich die Chancen auf eine Befreiung der restlichen Geiseln mit dem zunehmenden Druck des Militärs auf Gaza eher verringern. Mit Recht erhöhen deren Angehörige deshalb ihrerseits den Druck auf die Regierung Netanjahu.

Deutlich ungewisser ist dagegen die Antwort auf die entscheidende Frage, ob nach der angestrebten Zerstörung der Hamas dafür gesorgt werden kann, dass die Wiederbewaffnung von Gaza nicht umgehend von vorne losgeht, dass nicht wieder und weiter aus dem Sinai Waffen, Baumaterial, Technik nach Gaza geschmuggelt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Hilfe der internationalen Gemeinschaft – und einer neuen Sicherheitsstruktur.

Ohne einen Plan wird jeder Sieg zum Pyrrhus-Siege

Denn jedem denkenden Menschen muss klar sein, dass dieser Krieg, wie jeder Krieg, auch politische Ziele verfolgen muss. Wie wird es „am Tag danach“ aussehen, was soll passieren? Darüber müssten Israel und die Palästinenser einigermaßen klare Vorstellungen haben.

Es geht im aktuellen Krieg nämlich nicht nur um die Zerschlagung der Hamas oder um die Zukunft des Gaza-Streifens. Es geht ums Ganze, es geht um die Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts. Sonst wäre ein Sieg, wie auch immer er aussehen sollte, ein Pyrrhus-Sieg: so viele Tote auf beiden Seiten, enorme Zerstörung und kein Ende.

Bleiben am Ende nur zerstörte Orte und viele getötete Menschen?
Bleiben am Ende nur zerstörte Orte und viele getötete Menschen?

© AFP/Mahmud Hams

In der Vergangenheit waren Kriege und Krisen im Nahen Osten oft Katalysatoren für Annäherung und Verständigung. Der Jom-Kippur-Krieg 1973 leitete den Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten ein, der Irakkrieg 1991 das Osloer Abkommen mit den Palästinensern und den Frieden mit Jordanien.

Dazu brauchte es seinerzeit entschlossene und weitsichtige Politiker wie Henry Kissinger oder auch US-Präsident Jimmy Carter und Außenminister James Baker. Sie sahen, erkannten und nutzten die Chance, übten Druck aus und waren imstande, den Widerwillen der direkten Kontrahenten zu überwinden.

Sollte der Krieg eine Chance bieten, darf sie nicht ungenutzt verstreichen

Es ist also auch jetzt Zeit für eine entschlossene amerikanische Administration, die gemeinsam mit einer „Koalition der Willigen“ (Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, die Emirate, Marokko und den G7) dafür sorgt, dass die Chance, die der schreckliche Krieg bietet, nicht ungenutzt vorbeizieht. Was es dafür braucht, ist Zeit, und zudem könnte der Einsatz großer politischer, wirtschaftlicher und auch militärischer Ressourcen nötig werden.

Um an das politische Ziel zu kommen, müssen mindestens zwei Vorbedingungen erfüllt, zwei Hürden aus dem Weg geräumt werden. Zum einen darf die gegenwärtige israelische Regierung, die nicht nur keinen Plan für den Tag danach vorgelegt hat (und die Idee ganz ausdrücklich verwirft, Gaza wieder in die Obhut der Autonomiebehörde zu geben), nicht fortbestehen.

In der Kritik: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.
In der Kritik: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.

© Reuters/Pool

Dasselbe gilt auch für die Autonomiebehörde in ihrem gegenwärtigen Zustand. Hier sind vor allem die USA, aber auch Deutschland und die EU einerseits, Saudi-Arabien und Ägypten andererseits gefordert, die Parteien dazu zu zwingen, ihre Positionen an die Realität anzupassen.

Für Israel wird das bedeuten, nicht länger zwischen Westjordanland und Gaza zu trennen. Und die Autonomiebehörde hat schrittweise an der Lösung der Gaza-Frage teilzunehmen. Des Weiteren muss Israel zurück zum Grundprinzip Zweistaatenlösung. Das Selbstverständnis als „Siedlungsunternehmen“ muss ein Ende haben.

Die Autonomiebehörde muss sich neu aufstellen – inhaltlich und personell

Israel muss auch realisieren, dass es einer gefährlichen Illusion nachläuft, wenn es versucht, sich in die Region zu integrieren, bzw. die Beziehungen zu den Nachbarländern zu normalisieren, ohne die Palästina-Frage zu lösen – und zwar auf der Grundlage des Rechts der Palästinenser auf nationale Selbstbestimmung.

Parallel dazu muss sich die Autonomiebehörde, wie es US-Präsident Joe Biden formulierte, „revitalisieren“, sprich: sich inhaltlich und personell neu aufstellen, um dann sowohl die Westbank als auch Gaza kontrollieren zu können.

Eins steht jedenfalls fest: Mit Blick auf Gaza muss „am Tag danach“ die Sicherheit für Israel garantiert werden – und ebenso die Regierbarkeit und der Wiederaufbau von Gaza. Bis die Autonomiebehörde imstande ist, ihre Aufgabe zu übernehmen, ist eine internationale Präsenz unumgänglich. Dass Israel bei der Sicherheitsfrage eine entscheidende Rolle spielen wird, ist selbstverständlich.

Das Gaza-Projekt muss in eine politische Perspektive eingebettet werden, mit dem Ziel, die Zweistaatenlösung schrittweise umzusetzen und in einen Eckstein der regionalen Struktur zu verwandeln. Das wird lange Zeit dauern, und die internationale Gemeinschaft muss langatmig sein. Aber klar muss sein: Wenn die genannten Vorbedingungen nicht erfüllt werden, bleibt die hier skizzierte Zukunftsvision eine bloße Spinnerei. 

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