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Amerikanische Wapitis (Cervus elaphus) ließen sich auch von Zäunen nicht aufhalten.

© Mark Gocke

Kurze Pause vom Menschen: Wildtiere schlugen in der Pandemie neue Wege ein

Weniger Menschen, mehr Tiere – Darauf lässt sich eine Studie der Auswirkungen von Corona-Lockdowns verkürzen. Die Erkenntnisse könnten auch dem deutschen Wald nützen.

Straßen, Bahnstrecken und andere Infrastruktur zerschneiden die Landschaft und schränken damit das Leben vieler Wildtiere ein, die solche Hindernisse aus Menschenhand oft meiden und dort häufig ihr Verhalten ändern. Je größer ein solches Hindernis ist, umso stärker sind meist die Auswirkungen: Der Einfluss einer achtspurigen Autobahn oder einer Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn sollte also deutlich höher sein als der eines schmalen Weges.

Wichtig ist aber auch, wie häufig Menschen diese Verkehrswege nutzen, erklärt eine sehr große Forschungsgruppe um Marlee Tucker von der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen in der Zeitschrift „Science“.

Für seine Analyse nutzte das Team mit der sogenannten „Anthropause“ eine seltene Gelegenheit: Als Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie in vielen Regionen der Welt die Aktivitäten und vor allem die Mobilität vieler Menschen stark einschränkten, waren Straßen und Züge erheblich leerer.

Tracken und verstecken

„Viele Tiere reagieren schnell auf solche Veränderungen“, erklärt Klaus Hackländer. Der Wildtierbiologe, der neben seiner Professur an der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) auch Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung in Hamburg ist, untersucht mit seiner Gruppe den Einfluss von Störungen und auch deren Ende auf das Verhalten von Wildtieren, war an der Science-Studie aber nicht beteiligt. „Zu Beginn einer Jagdsaison verstecken sich Hirsche und Rehe viel mehr vor Menschen als nach dem Ende der Jagdzeit“, nennt Hackländer ein Beispiel.

Solche Veränderungen lassen sich im forstlichen Revier mit naturwissenschaftlichen Methoden durchaus untersuchen. Bei der Mobilität stoßen Studien aber schnell an Grenzen, weil Verkehr und Spaziergänger im Grünen nicht so klar geregelt sind wie Jagdzeiten.

Das Team um Marlee Tucker nutzte daher die Anthropause und sammelte die Daten aus 76 Studien, die lange vor der Pandemie begonnen hatten und die während der ersten Lockdown-Maßnahmen zwischen dem 1. Februar und dem 15. Mai 2020 weiterliefen. In diesen Untersuchungen wurden die Aufenthaltsorte von 2300 Individuen aus 43 Säugetier-Arten über das Satellitenortungssystem GPS verfolgt. Ab dem jeweiligen Beginn der von Behörden angeordneten Maßnahmen konnten mit diesen Daten die Wanderungen jedes der Tiere für durchschnittlich 59 Tage ausgewertet werden.

Bessere Beziehungen

In den Gebieten mit besonders scharfen Covid-19-Maßnahmen, in denen das öffentliche Leben und die Bewegungsfreiheit der Menschen besonders stark eingeschränkt waren, nutzten die beobachteten Säugetiere die Ruhe und liefen 73 Prozent weiter als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Gleichzeitig verkürzten sich die Wege der Tiere in der unmittelbaren Umgebung größerer Städte deutlich und wagten sich dort durchschnittlich 36 Prozent näher an Fahrbahnen heran als vor der Pandemie.

Elefanten (Loxodonta africana) in Botswana halten sich normalerweise eher fern von menschlichen Siedlungen.
Elefanten (Loxodonta africana) in Botswana halten sich normalerweise eher fern von menschlichen Siedlungen.

© Tempe Adams

Offenbar hatten sie weniger Angst vor dem erheblich verringerten Verkehr und auch vor Menschen. Weil ihre Fluchtdistanz niedriger wurde, ließen die Tiere die wenigen Menschen, die in diesen Zeiten noch unterwegs waren, näher an sich heran, flohen seltener und sparten so viel Energie.

„Bisher gab es für diese rasche Anpassung der Tiere an die erheblich verringerte Mobilität zwar einige, oft eher anekdotische Beobachtungen“, kommentiert Hackländer die Ergebnisse. „Jetzt aber liegt dazu eine solide Studie vor, die auch Hinweise gibt, wie sich die Beziehungen zwischen Wildtieren und Menschen verbessern lassen.“ Dabei denkt der Wildtierbiologe nicht zuerst an Straßenverkehr, sondern an eine viele größere Gefahr für Wildtiere: Menschen auf der Jagd.

Im Tal der Hirsche

Diese sitzen oft auf Hochsitzen, die an Lichtungen und Wiesen stehen. Hirsche sind Grasfresser und finden es dort. Die Tiere passen jedoch ihr Verhalten an und verstecken sich im Wald, in dem sie kaum Gras finden. Dort weichen sie daher auf die Triebe junger Bäume aus und schädigen so den Nachwuchs des Waldes erheblich. Gleichzeitig verfehlt die Hochsitzjagd ihr Ziel. Wird der Jagddruck dann verstärkt, leben die Tiere noch heimlicher und die Situation verschlimmert sich weiter.

Einfacher und gezielter verringern dagegen Bewegungsjagden die Bestände, die nur an wenigen Tagen im Jahr stattfinden: „An diese Intervalljagd können sich die Hirsche schlecht anpassen“, erklärt der Vorstand der Deutschen Wildtier Stiftung. Die Tiere grasen wieder auf Lichtungen und richten im Wald weniger Schäden an.

In der Wildniskernzone der Döberitzer Heide in Brandenburg sind Rothirsche auch in der Brunftzeit ab September weitgehend ungestört.
In der Wildniskernzone der Döberitzer Heide in Brandenburg sind Rothirsche auch in der Brunftzeit ab September weitgehend ungestört.

© ZB/Ingolf König-Jablonski

Wie gut diese Methode funktioniert, zeigt nicht nur der Schweizer Kanton Graubünden, in dem die Jagd auf wenige Wochen im Jahr begrenzt ist, sondern auch das Gut Klepelshagen der Deutschen Wildtier Stiftung im Südosten von Mecklenburg-Vorpommern. Dort ist die Jagd auf einer großen Freifläche im „Tal der Hirsche“ das ganze Jahr verboten. „Dort lassen sich die Geweihträger sogar bei der Brunft gut beobachten, weil sie sich dort sicher fühlen“, berichtet Klaus Hackländer. Auf dieser großen Wiese haben die Tiere ihre Ruhe und finden reichlich Nahrung, während der Bestand an anderen Orten trotzdem reguliert werden kann.

Neben der Jagd kann auch das Freizeitverhalten von Menschen Wildtieren das Leben erheblich erleichtern. Bleiben diese auf den Wegen und halten ihre Hunde an der Leine, verwechseln Hirsche sie nicht mehr mit Jägern – und verschwenden ihre Energie seltener, weil sie vor harmlosen Spaziergängern fliehen. Schließlich können die Tiere Jäger und Jogger sehr gut voneinander unterscheiden, haben Untersuchungen von Hackländer und seiner BOKU-Gruppe gezeigt: Schleicht ein Mensch ähnlich wie ein Jäger am besten in Tarnkleidung durch die Gegend, fliehen Hirsche viel eher als vor einem Jogger, der in bunter Sportkleidung offen auf einem Weg durch die Landschaft läuft. Auch hier bewährt sich die gute Lernfähigkeit von Wildtieren.

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