zum Hauptinhalt
Sika-Hirsche stehen vor einem Tempel im japanischen Nara, wo seit der Pandemie weniger Touristen sind.

© dpa/kyodo

Wie das Coronavirus die Natur wiederbelebt: Menschen bleiben zu Hause, Hirsche spazieren auf der Straße

Rund um den Globus haben sich Menschen in ihre Häuser zurückgezogen. Daraufhin tauchen Tiere in den Städten auf – und Forscher ergreifen eine einmalige Chance.

Füchse schlendern durch deutsche Städte, Schildkröten kehren an leere Strände in Thailand zurück und in London spazieren Hirsche durch die Straßen: Weil das öffentliche Leben in den letzten Monaten weltweit heruntergefahren worden ist, trauen sich Tiere wieder in Gebiete, die sie wegen der vielen Menschen sonst mieden.

In Indien ging die Luftverschmutzung wegen der Corona-Maßnahmen so weit zurück, dass Bewohner des Bundesstaates Punjab nach 30 Jahren erstmals wieder das Himalayagebirge zu Gesicht bekamen – und in Venedig sind Fische in den Kanälen plötzlich wieder zu erkennen, weil weniger Boote unterwegs sind und das Wasser aufklart. „Die Natur ist zurück“, könnte da ein erster Gedanke sein.

Wie genau sich der Rückzug von Menschen auf die Tiere auswirkt, erforscht Bewegungsökologe Thomas Müller vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum. „Wir vermuten: Wo Menschen weniger aktiv sind, tauchen auch wieder vermehrt Tiere auf“, sagt Müller im Interview.

Müller arbeitet an dem Forschungsprojekt „COVID-19 Bio-Logging Initiative“ mit, bei dem Wissenschaftler Daten von Mini-Sendern untersuchen, die weltweit an Säugetieren, Vögeln und Fischen angebracht sind. Beteiligt sind ebenfalls Forscher des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und der Universität Konstanz.

Die Daten aus mehr als 800 Studien auf der ganzen Welt könnten Aufschluss darüber geben, wie sich beispielsweise Wildkatzen, Bären und Rehe vor, während und nach der Pandemie bewegen. Glücklicherweise liefen die Studien bereits vor und während der Lockdowns – dadurch können die Daten Aufschluss über mögliche veränderte Bewegungsmuster von Tieren geben.

Tiere möglicherweise tagaktiver als sonst

Bewegungsökologe Müller vermutet: „Es kann gut sein, dass in Städten gesichtete Tiere einfach nur tagaktiver als sonst sind – und weil sie vorher eher nachts unterwegs waren, sind sie weniger aufgefallen.“

Seit weniger Verkehr auf den Straßen herrscht, sind auch immer mehr Füchse in deutschen Städten zu sehen.

© dpa/Britta Pedersen

Bereits vor dem laufenden Forschungsprojekt haben Müller und seine Kollegen die Bewegungen von Gazellen mithilfe von Sendern in der Mongolei untersucht – fernab der Städte und stark besiedelten Gebiete. Durch die Sattelitendaten können sie auf Karten verfolgen, wie sich die Gazellenherden bewegen.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

„Weil viele biologische Studien häufig in entlegenen Gebieten der Welt stattfinden, sind dort die Einflüsse des Lockdowns vermutlich sehr gering. Nur wenige Studien schauen sich Tierbewegungen in stark besiedelten Gebieten an – das ist eine Herausforderung für das Forschungsprojekt.“

Manche Arten profitieren vermutlich erst nach längerem Rückzug der Menschen

Für viele Tierarten müssten die Menschen sich viel länger und stärker zurückziehen, damit sie auch in besiedelten Gebieten Lebensräume finden, vermutet Müller. „Der Schwarzstorch zum Beispiel ist scheu, brütet sehr zurückgezogen in Wäldern und reagiert sehr sensibel auf Lärm und Menschen.“

Eine solche Vogelart könnte mutmaßlich erst dann von einem Lockdown profitieren, wenn dieser langfristig zu einem Rückzug der Menschen führt. „Weißstörche hingegen ziehen ihre Jungen auch gerne in der Nähe von Menschen groß, weil sie dort viel Nahrung finden, zum Beispiel auf Äckern und Feuchtwiesen. Das zeigt: Es kommt immer darauf an, welche Tierarten von einem Rückzug der Menschen betroffen sind.“

[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's nun mit Tagesspiegel Plus: Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]

Mit den Ergebnissen des Forschungsprojekts erhoffen sich die Wissenschaftler auch eine Antwort auf die Frage: Ab wann belasten oder vertreiben Menschen durch ihre Aktivitäten bestimmte Vogel- oder Säugetierarten? Wie lässt sich das Zusammenleben von Mensch und Tier so gestalten, dass genug Lebensraum für alle da ist? Klären sollen diese Fragen am Ende die Forschungsdaten, die Müller und andere Wissenschaftler auf der ganzen Welt nun unter anderem mithilfe von Sendern sammeln.

Zu den Singvögeln in Deutschland gehören zum Beispiel die Blaumeisen.

© dpa/Tim Brakemeier

Wale offenbar weniger gestresst, wenn es Unterwasser still ist

Auch Wale dürften von den Folgen der Pandemie profitiert haben: Als im Frühjahr weniger Schiffe auf den Ozeanen unterwegs waren, herrschte Unterwasser eine Stille wie seit langem nicht mehr. Vergleichbar ist sie mit der Stille nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Damals sammelten Meeresbiologen um Rosalind Rolland Kotproben von Glattwalen in der kanadischen Bay of Fundy. Über die Proben konnten die kanadischen und US-amerikanischen Wissenschaftler herausfinden, dass die Wale während der Stille viel weniger gestresst waren.

[Jeden Morgen gibt es im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint Berlins wichtigste Nachrichten und größte Aufreger. Kostenlos und kompakt: checkpoint.tagesspiegel.de]

Als der Lärmpegel in den folgenden Jahren wieder stieg, nahm der Stress der Tiere wieder zu, heißt es in den Studienergebnissen der Forscher in einem britischen Fachmagazin. Wale könnten durch die Stille während der Pandemie mithilfe ihrer Unterwasserrufe wieder besser miteinander kommunizieren, vermuten Biologen.

Vögel brauchen weniger laut zu singen

Die geringere Lärmbelastung hilft offenbar auch Singvögeln wie den Dachsammern, wie US-amerikanische Biologen um die Forscherin Elizabeth Derry Berry zeigen konnten. Durch den Verkehrslärm in Städten müssen Vögel in der Regel lauter und höher zwitschern, damit ihre Artgenossen sie hören – das ist ähnlich wie bei Menschen, die bei einer Geräuschkulisse lauter sprechen müssen und dabei in eine höhere Tonlage wechseln.

Leider haben Lockdowns wenig an Klimakrise oder Artensterben geändert – auch den deutschen Wäldern geht es weiterhin schlecht.

© AFP/John MacDougall

Als im Frühjahr der Verkehr im kalifornischen San Francisco zurückging und damit auch der Lärm, verglichen die US-amerikanischen Wissenschaftler die Aufnahmen der Singvögel in der Umgebung – also Aufnahmen vor und nach den Ausgangsbeschränkungen.

Und tatsächlich zeigen die in dem Fachmagazin „Science“ veröffentlichten Studienergebnisse: Die Dachsammern sangen während der Ausgangsbeschränkungen leiser und tiefer als sonst – sie mussten offensichtlich nicht mehr gegen den Verkehrslärm anzwitschern. Besonders erfreulich: Plötzlich sangen die Dachsammern wieder die Lieder, die seit Jahrzehnten nicht mehr zu hören waren.

Auf den ersten Blick sehen auch Klimaforscher positive ökologische Folgen der Corona-Krise und ihrer Gegenmaßnahmen: Weltweit gingen die klimaschädlichen CO2-Emissionen im ersten Halbjahr 2020 um mehr als eine Milliarde Tonnen zurück – so viel wie sonst während der Ölkrise 1970 oder der Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren.

Homeoffice senkt CO2-Emissionen im Verkehr

Das ist das Ergebnis einer Studie, an der auch Wissenschaftler des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) beteiligt waren und die im Oktober im Fachmagazin „Nature Communications“ veröffentlicht wurde. „Vor allem aufgrund des weit verbreiteten Arbeitens von zu Hause gingen die CO2-Emissionen im Verkehr weltweit um 40 Prozent zurück“, sagt der Studienautor Daniel Kammen von der Universität von Kalifornien in Berkeley.

PIK-Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber betont, dass der CO2-Rückgang zwar beispiellos sei. „Doch ein Rückgang menschlicher Aktivitäten kann nicht die Antwort sein.“ Viel mehr müsse sich die Weltgemeinschaft darauf konzentrieren, die CO2-Intensität der globalen Wirtschaft zu verringern.

Weniger Autos, mehr Raum für Tiere: Jetzt, wo die Straßen leer sind, können Wildschweine ungenierter durch die Städte ziehen.

© dpa/Steffen Rasche

Über eine Tatsache dürfen die singenden Vögel, stilleren Weltmeere und geringeren CO2-Emissionen nicht hinwegtäuschen: Eine Million Tier- und Pflanzenarten könnten aussterben, warnt der Weltbiodiversitätrat. Demnach sterben die Arten auf unserem Planeten hunderte Male schneller als in den vergangenen zehn Millionen Jahren: Wissenschaftler sprechen von einem „Massenaussterben“.

Nur wenn die Menschheit die Treiber des Artensterbens in den Griff bekommt, kann das Artensterben aufgehalten werden – dazu zählen laut den Vereinten Nationen die anhaltende Zerstörung von Lebensräumen, Jagd und Ausbeutung von Tieren, Verschmutzung, invasive Arten und die Klimakrise.

Der freie Blick auf den Himalaya und die Rückkehr von Tieren in Städte zeigen jedoch, wie schnell die Natur sich erholen kann, wenn der Mensch die Lebensräume schont – auch wenn er das unfreiwillig tut.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false