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Sigmund Freud (1856-1939) stellte sich die menschliche Psyche dreigeteilt vor.

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Tagesrückspiegel – Heute vor 100 Jahren: Seit „Es, Ich und Über-Ich“ sehen wir uns mit anderen Augen

Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, stellte sich die menschliche Psyche dreigeteilt vor. Hält seine Idee auch modernem Wissen stand?

Eine Kolumne von Nantke Garrelts

Es, Ich und Über-Ich: Diese Dreieinigkeit ist am 24. April 1923, also heute vor genau 100 Jahren, als wichtiger Teil der Psychoanalyse-Theorie Sigmund Freuds erschienen. Revolutionär für damalige Zeit war dabei die Einteilung in Bewusstes und Unbewusstes und der Gedanke, dass das Unbewusste, beeinflusst von vergangenen Erfahrungen, unser Handeln ebenso steuert wie das Bewusste.

Wurde sowohl im Christentum als auch im Volksglauben schlechtes Verhalten oft auf eine externe Einheit (Dämonen, Satan oder der böse Blick) geschoben, stellte Freud ganz treffend fest, dass unsere eigentlichen Dämonen Nachbarn unserer Vernunft sind.

Diese Idee hält auch noch modernem neurologischem Wissen stand: Das Belohnungszentrum, das uns nach Sex oder fettigem Essen gieren lässt und damit wohl Teil des Es sein könnte, liegt nur wenige Zentimeter entfernt vom präfrontalen Kortex, der als steuerndes Element grob dem Ich entsprechen würde.

Dessen Bedeutung war wiederum von der Aufklärung unterschätzt worden: Schön wäre es, wäre die Menschheit von Vernunft und Kontrolle über ihre Taten gekennzeichnet. Heute weiß man, dass etwa 95 Prozent aller Denkleistungen und Entscheidungen unbewusst ablaufen.

Etwas freudianisch-absurd wird dann die Erklärung des Über-Ich: Da spielen libidinöse Gefühle und Aggressionen gegenüber den Eltern eine Rolle. Am Ende aber gehen daraus nicht weniger als die Moral, Religion und soziale Gefühle hervor, so Freud.

Aus heutiger Sicht ist das vielleicht der Teil, den man lieber nicht so genau erklärt, weil er einfach zu abstrus wirkt. Anwendung findet diese Idee in der modernen Psychotherapie aber dennoch, etwa als „Innerer Kritiker“, der in der Schematherapie und etwa in den populärpsychologischen Büchern von Stefanie Stahl millionenfach schlechte Gefühle wie Scham, Druck oder Unzulänglichkeit erklärt.

Diesen Teil sieht man heute aber eher negativ an, er soll möglichst wenig Raum bekommen. Stattdessen soll das Ich hinter dem Steuer sitzen und die Triebe des Es sowie die toxischen Glaubenssätze aus der Kindheit zügeln. Die positiven Glaubenssätze, also eben Moral und soziales Verhalten, gehören nach modernen Theorien zum erwachsenen Ich. So lebt Freuds Dreiergespann weiter – auch ohne Ödipuskomplex.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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