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Luftmensch Menakhem Mendl. Still der Neufassung von „Jewish Luck“ von dem Potsdamer Medienkunstkollektiv Xenorama.

© XENORAMA

Jüdisches Filmfestival Berlin Brandenburg: Ein sowjetischer Stummfilmklassiker lebt auf

„Jewish Luck“ war der einzige jiddische Stummfilm der Sowjetunion. In Berlin und Potsdam wird er nun in einer Neufassung gezeigt: als algorithmische Performance.

Wenn er erklären soll, was die Kunst von Xenorama ausmacht, nennt Tim Heinze immer wieder ein Wort, das zunächst überrascht. Organisch. Erstaunlich, denn: Heinze ist ein Medienkünstler. Einer seiner Schwerpunkte: digitale Technologien. Gerade hat er fünf intensive Wochen mit einem Algorithmus verbracht, der ihm beim Neuvertonen eines jiddischen Stummfilms von 1925 half.

Wie das funktionierte, erklären Tim Heinze und Richard Oeckel in ihrem Büro im Rechenzentrum, diesem Plattenbau aus den späten 1960er Jahren in Potsdams Mitte, wo es im Sommer brütend heiß ist und das Internet schlecht, und wo dennoch rund 300 Kunstschaffende ausharren, solange der vom Abriss bedrohte DDR-Bau steht.

Das Originalplakat des Stummfilms „Jewish Luck“ von 1925.

© National Center for Jewish Film

Der Auftrag, „Jewish Luck“ mit einer Neufassung zu versehen, kam von Bernd Buder, Programmdirektor des Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg. Es ist der einzige jiddische Stummfilm der Sowjetunion, ein Film von Alexander Granowski. Er trägt schweres Gepäck: Drehbuchautor Isaac Babel fiel stalinistischen Säuberungen zum Opfer, er wurde 1940 hingerichtet. Hauptdarsteller Solomon Michailowitsch Michoels starb 1948 einen von der Moskauer Geheimpolizei inszenierten Unfalltod. Der Film selbst verhandelt antisemitische Repressalien im zaristischen Russland. Als Komödie.

„Jewish Luck“, gedreht in Odessa und im jüdischen Schtetl von Berditschew, zeigt eine vergangene jüdische Lebenswelt. Im Mittelpunkt Menakhem Mendl, eine Figur von Schalom Alejchem (1859-1916). Mendl ist die archetypische Personifizierung dessen, der das Glück stets sucht, aber nie findet. „Ein Luftmensch“, nennt ihn die Filmhistorikerin Lea Wohl von Haselberg aus dem Programmkollektiv des Festivals. „Die Tragik des Verlierers und die Komik des Lebenskünstlers“, sieht sie in dem Film. Und auch etwas, das heute sehr modern klingt. Resilienz.

Medienkünstler Richard Oeckel und Tim Heinze am Rechenzentrum Potsdam.

© Andreas Klaer

Keine Reproduktion bekannter Kompositionen war gefragt, sondern etwas Eigenes. Jazz, Hip-Hop, Rock, technoide Rhythmen sind zu hören, nicht jedoch: Klezmer. Die fünf Männer von Xenorama wollen die Möglichkeiten der neuen Medien für die Kunst befragen, sie kritisch befragen. „Wo geben wir uns auf? Kann der Algorithmus technische Emotion? Gefühle erzeugen?“

Getestet haben Xenorama Algorithmen bereits in dem Filmprojekt „Relief“: ein Porträt märkischer Landschaft, aus Vogelperspektive. Der Algorithmus sorgte dafür, dass Bilder von Ackerfurchen, Baumwipfeln oder Wasseroberflächen bestimmte Klänge hervorriefen. Eine Landschaft, die sich ihren eigenen Klang erschrieb.

Filmstill des Stummfilms „Jewish Luck“.

© National Center for Jewish Film

So ähnlich funktioniert „Jewish Luck“. Für die Neufassung haben Xenorama einen Algorithmus entwickelt, der auf Bewegungen im Film klanglich reagiert. Beispiel: Eine rasche Bewegung führt zum Crescendo. Dazu live eingespielte Musik eines Kontrabassisten, um Bewegungen durch Improvisation in Echtzeit zu begleiten: der organische Faktor. „Eine algorithmische Performance mit menschlichen Elementen“, nennt Oeckel das Ergebnis.

Xenorama setzen dabei bewusst auf Transparenz. Wenn die Maschine am Werk ist, hinterlässt das im Film auch visuell Spuren. Streifen über der Leinwand oder bunte Vierecke im Bild. „So soll das Publikum die Möglichkeit bekommen einzuordnen: Ach krass, das war gerade eine Maschine.“ Schritte auf einer Treppe werden von wirbelnden Percussions begleitet. Jazzpianist oder Algorithmus? Der Unterschied sei kaum mehr zu hören, sagt Oeckel. Er spielt selbst Klavier.

„Jewish Luck“ ist eine Komödie, und das nehmen Xenorama ernst. Es soll nicht perfekt sein. Und vor allem soll über all dem nicht der bittere Ernst der historischen Differenz liegen. In einer Szene lädt Menachem Mendel weißgekleidete Bräute in einen Viehwagon. 2023 hat man sofort jene Transporte im Kopf, die im KZ endeten. Im Film bleibt es lustig. „Wir sind da natürlich alle sehr verwundet“, sagt Heinze. „Aber der Algorithmus weiß nichts.“ KI kann menschliche Erfahrung reproduzieren, nicht durchleben, sagt Oeckel. Genau daher bleibe der Mensch in der Kunst unersetzlich.

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