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Die Benefizveranstaltung „Solidarität mit der Ukraine“ im März auf dem Potsdamer Luisenplatz. 

© Andreas Klaer

Gastbeitrag zum Ukraine-Krieg: Unsere Werte müssen uns etwas wert sein

Solidarität mit der Ukraine gibt es nicht zum Nulltarif. Die Kosten dürfen nicht so verteilt werden, dass Einkommensschwache besonders betroffen sind.

Manja Schüle (SPD) ist seit Herbst 2019 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur im Land Brandenburg. Davor war die Potsdamerin Bundestagsabgeordnete. 

Die Welt ist aus den Fugen – dieses Gefühl haben derzeit viele Menschen, weil wir gerade so viele Krisen gleichzeitig erleben. Immer noch am meisten bewegt viele von uns der russische Überfall auf die Ukraine und seine Folgen. Wir alle können nicht genau wissen, was im Kopf des russischen Despoten Wladimir Putin vor sich geht. Offensichtlich aber strebt er mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht nur an, illegitime Gebietsansprüche gegen einen souveränen Staat durchzusetzen. Anscheinend will er – gestützt auf eine verquere Geschichtsfiktion – die Existenz der Nation Ukraine komplett auslöschen.

Aber es geht nicht allein um die Ukraine. Es geht auch um uns. Und das nicht nur, weil es uns unmittelbar betrifft (und betreffen muss!), wenn in unserer direkten Nachbarschaft ein großes ein kleineres Land überfällt und wenn brutale Kriegsverbrechen begangen werden. Wladimir Putin meint auch uns. Er hält unsere Art zu leben für dekadent. Er hält unsere liberale Demokratie für schwächlich. Und er hält unsere Bündnisse – Nato wie EU – für instabil. Putin wollte und will deshalb einen Keil in die Organisationen „des Westens“ treiben. Das ist ihm ganz offensichtlich nicht gelungen. Die Europäische Union, vor einem halben Jahr noch gelähmt, steht trotz einzelner Ausreißer geschlossen hinter den härtesten Wirtschaftssanktionen, die je verhängt wurden – hinter Sanktionen, deren Folgen jeder einzelne Bürger in der EU zu spüren bekommt. Die Nato, noch vor kurzem von einem irrlichternden US-Präsidenten zur Disposition gestellt, ist so stark wie nie und wird mit Schweden und Finnland zwei gewichtige neue Mitglieder gewinnen. Und das gilt keineswegs nur für die Rhetorik von Gipfelerklärungen, sondern ganz konkret auch mit Blick auf die nationalen Verteidigungsausgaben. EU und Nato haben das gezeigt, was Putin und seine Gefolgsleute in Russland am wenigsten erwartet haben: Zusammenhalt und Solidarität. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Darauf können wir durchaus auch ein bisschen stolz sein.

Zur Überheblichkeit freilich besteht nicht der geringste Anlass. Denn, wenn wir ehrlich sind: Die Entschlossenheit, die wir heute zeigen, hätten wir schon 2014 als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zeigen müssen. Damals glaubten viele – und auch ich kann mich nicht ganz davon ausnehmen – es handele sich gewissermaßen um „innere Angelegenheiten“ auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, die uns weit weniger angingen, als der Bezug von billigem russischen Gas und Öl. Das war eine zynische Fehleinschätzung. Wer das noch immer nicht begriffen hat, ist entweder naiv, nostalgisch oder schlimmeres. Natürlich geht es in der Außenpolitik nie nur um Moral, sondern immer auch um Interessen. Realpolitik ist kein Schimpfwort, sondern eine Notwendigkeit. Es ist legitim für ein rohstoffarmes Land wie Deutschland, sich für günstige Gasimporte einzusetzen. Es ist vernünftig für eine Exportnation, die Absatzmärkte für deutsche Autos und Maschinen im Blick zu haben. Klar ist auch: Putin ist nicht der einzige gefährliche Despot auf der Welt. Aber der einzige derzeit, der ein Land in unserer direkten Nachbarschaft angegriffen hat.

Langsam wird klar, was eigentlich immer hätte klar sein müssen: Dass es Solidarität mit der Ukraine nicht zum Nulltarif gibt. Der Preis, den wir zahlen müssen, ist hoch. Er zeigt sich an der Tankstelle wie auf der Gasrechnung – von der allgemeinen Inflation und den Gefahren für industrielle Arbeitsplätze ganz zu schweigen. Wir müssen alles dafür tun, dass nicht nur die Arbeitnehmer und Pendlerinnen, die Beschäftigten bei der PCK in Schwedt oder der BASF in Ludwigshafen die Zeche zahlen.
So, wie wir Solidarität nach außen – mit der Ukraine – gezeigt haben und weiter zeigen müssen, brauchen wir jetzt auch Solidarität nach innen. Dazu gehören für mich eine Übergewinnsteuer, die ungerechtfertigte Sondergewinne bei den großen Ölkonzernen abschöpft, genauso wie eine substanzielle Entlastung von Rentnern und Geringverdienern, von Alleinerziehenden und Familien mit kleinen und mittleren Einkommen. Natürlich dürfen die Kosten der Rettung von Gasimporteuren nicht so verteilt werden, dass Einkommensschwache besonders getroffen werden. Hier wäre eine Steuerfinanzierung gerechter – so haben wir es ja auch bei den diversen Bankenrettungen gemacht. Es ist bitter, dass sich die Ampel auf Bundesebene angesichts der außergewöhnlichen Situation noch nicht zu ausreichend außergewöhnlichen Maßnahmen hat durchringen können. Ich verstehe nicht, dass die vom Bundeswirtschaftsminister versprochene Lösung für die Raffinerie in Schwedt immer noch auf sich warten lässt. Und ich verstehe auch nicht, dass es immer noch keine Struktur gibt, die die Erfahrungen aus der Region, von den Beschäftigten, aus der Wissenschaft aufnimmt und konkrete, langfristige Zukunftsprojekte für diesen so wichtigen Industriestandort in Brandenburg berät und entwickelt. 
Wir müssen dafür sorgen, dass alle in Deutschland an den gesellschaftlichen Kosten beteiligt werden. Aber wir dürfen nie vergessen: Der Preis, den wir zu zahlen haben, ist nur ein verschwindend kleiner Bruchteil dessen, was die Menschen in der Ukraine zu leisten haben. 

Natürlich kann und muss über Sinn und Unsinn von Sanktionen gestritten werden. Die offene Diskussion ist schließlich ein Wesensmerkmal der liberalen Demokratie. Auf die Frage, wie der Krieg am Schnellsten zu beenden ist, gibt es nicht nur eine Antwort. Die Politik der Bundesregierung kann man genauso kritisieren wie die der USA oder der Ukraine. Die Demokratie braucht den Streit. 
Aber unsere Demokratie braucht auch festen moralischen Grund unter den Füßen. Wenn wir nichts für unsere Werte zu zahlen bereit sind, können wir vielleicht ökonomisch reüssieren – aber um den Preis des moralischen Bankrotts.

Manja Schüle

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