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Vom Schallplattenverkäufer zum Obdachlosen: Vernon Subutex in Nahaufnahme.

© Reprodukt

Die besten Comics des Jahres 2022: Vielschichtig und einfallsreich, virtuos und märchenhaft

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser:innen und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne.

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost. Hier eine erste Auswahl der Ergebnisse und Informationen zu den Teilnahmebedingungen.

Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus zehn Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Christian Endres, Birte Förster, Moritz Honert, Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne und Erik Wenk.

Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.

Welches sind in diesem Jahr die Top-Titel? Kurz vor Weihnachten steht das Jury-Ergebnis fest.

© Tagesspiegel

Daraus ergibt sich dann die Bestenliste, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Liste wird abschließend von allen Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die an diesem Donnerstag im Tagesspiegel veröffentlicht wird.

Die Favoriten von Tagesspiegel-Redakteur Lars von Törne

Platz 5: Taiyo Matsumoto: „Ping Pong“, Band 1.
Die Gefühlswelt jugendlicher Außenseiter ist eines der wiederkehrenden Themen im Werk eines meiner Lieblings-Manga-Autoren, Tayato Matsumoto. So wie er schon in „Sunny“, „Tekkonen Kinkreet“ und „GoGo Monster“ die Einsamkeit, aber auch die Träume und Hoffnungen seiner jungen Hauptfiguren vermittelt hat, tut er das auch in „Ping Pong“. Nur dass hier die Rahmenhandlung eine Sportgeschichte ist, es geht um den Aufstieg von Smile und Peko, zwei Schulfreunden mit großer Tischtennisbegabung, die ihr volles Potenzial erst nach und nach erkennen.

Knallhartes Training: Eine Szene aus „Ping Pong“.

© Reprodukt

Herausragend ist auch diesmal wieder, wie nah Matsumoto seinen Figuren ist, und das im wörtlichen Sinne. Viele Panels zeigen Gesichter in Großaufnahme, manchmal sieht man im virtuos strukturierten Layout dank extremer Bildschnitte nur eine Mund- oder Augenpartie, über die Informationen und Emotionen vermittelt werden. Der Strich ist kantig und individuell, keine Spur vom sterilen Baukastenprinzip, nach dem viele andere Mangafiguren gezeichnet werden.

Neben ruhigen, introspektiven Szenen überzeugen auch die dynamischen Momente an der Tischtennisplatte. Schlüsselmomente der sportlichen Partien hält Matsumoto in reduzierten, eingefroren wirkenden Posen fest, bevor dann im nächsten Moment die Speedlines und Soundwords im Panel quasi explodieren und schnelle Bewegung vermitteln. Der erste Band kommt kaum über ein Exposé der grundlegenden Figuren und Handlungselemente hinaus – ich freue mich jetzt schon auf Band 2, der Anfang Januar auf Deutsch erscheinen soll.

Platz 4: Flix: „Das Humboldt-Tier“.
Zeichnerisch und erzählerisch schafft „Das Humboldt-Tier“ eine bemerkenswerte Gratwanderung: Zum einen ist die Erzählung von der märchenhaften Wiederauferstehung des Fabeltiers aus dem Amazonas-Dschungel im Berlin der 1930er Jahre eine turbulente Abenteuergeschichte. Flix zeigt hier ein weiteres Mal ein gutes Gefühl für lebendige Dialoge und Timing.

Eine Seite aus „Das Humboldt-Tier“.

© Flix/Dupuis/Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2022

Sein an Vorbildern wie André Franquin oder Bill Watterson („Calvin und Hobbes“) geschulter dynamischer Strich und seine leicht karikierende Figurenzeichnung machen die Geschichte auch visuell ansprechend und unterhaltsam. Dazu kommt ein souveränes Spiel mit den Möglichkeiten des Comics bei der Seitengestaltung, immer wieder bricht er die klassische Aufteilung der Bildpanels auf und ordnet Szenen so an, dass sich viele Einzelbilder wie bei einem Puzzle zu einem größeren Gesamtbild fügen.

Zusätzlich vermittelt der Comic auch eine humanistische Botschaft. Das beginnt mit der Darstellung Alexander von Humboldts und seiner Entdeckungsreisen am Anfang, bei der auch deutliche Kritik am menschlichen Umgang mit der Natur und anderen Kulturen – Stichwort Raubkunst – erkennbar wird. Und es gibt neben dem Spaß auch immer wieder sozialrealistische, zum Nachdenken anregende Szenen, die sich als Kommentare zum menschlichen Zusammenleben, dem Umgang mit Fremden oder der Empathie gegenüber Hilfsbedürftigen lesen lassen. Das kommt bei Flix aber nie mit erhobenem Zeigefinger daher, sondern wird so unterhaltsam verpackt, dass dieses Album junge wie ältere Comiclesende gleichermaßen ansprechen dürfte.

Ich habe mir neben der Buchhandelsausgabe kürzlich die Deluxe-Version geschenkt, die alle Bleistift-Zeichnungen enthält, die noch deutlicher als die fertigen Seiten zeigen, was für einen lebendigen Strich Flix hat und wie souverän er sein Handwerk beherrscht. Und meiner Nichte lege ich das „Humboldt-Tier“ ebenfalls unter den Weihnachtsbaum.

Platz 3: Miriam Libicki, Gilad Seliktar, Barbara Yelin: „Aber ich lebe“.
2022 hat eine Reihe herausragender Comic-Biografien hervorgebracht, die eine Gemeinsamkeit haben: Sie wurden zusammen mit den Menschen erarbeitet, deren Lebensgeschichte sie behandeln. Das führte zu einigen beachtlichen Werken, die nicht nur biografische Eckdaten illustrieren, sondern bei denen die Begegnung der Beteiligten ebenso Thema ist wie die im Zentrum stehende Person. Besonders gut ist das neben Birgit Weyhes „Rude Girl“ und Mikkel Sommers und Anna Rakhmankos „Hinterhof“ in der Anthologie „Aber ich lebe“ gelungen. Vier Holocaust-Überlebende, drei Künstler:innen aus Israel, Kanada und Deutschland haben daran rund drei Jahre lang gearbeitet.

Selbstporträt von Gilad Seliktar bei einem seiner Treffen mit Nico und Rolf Kamp.

© C.H. Beck

Eine Vorgabe des Projekts war, dass die Zeichner:innen selbst zu Handelnden in ihren Geschichten werden. So hat Barbara Yelin vier Tage gemeinsam mit der Holocaust Überlebenden Emmie Abel in Israel verbracht und deren Schilderungen ihrer Kindheit in vielschichtigen Aquarellbuntstift-Bildern zu Papier gebracht, in denen die Zeichnerin auch ihre eigene Rolle thematisiert. Der israelische Zeichner Gilad Seliktar traf sich mit den Zeitzeugen Nico und Rolf Kamp und erzählt davon in teils realistischen, teils skizzenhaften Bildfolgen. Und die in Kanada lebende amerikanisch-israelische Künstlerin Miriam Libicki verarbeitet die Überlebensgeschichte von David Schaffer in Bildern, die teilweise an Infografiken erinnern und Schaffer inspiriert wurden, der nach dem Krieg als Ingenieur gearbeitet hat.

Dabei wurden sie durch Fachleute wissenschaftlich unterstützt, ihre Comics werden im Buch ergänzt durch fundierte Hintergrundtexte, Grafiken und andere Sachinformationen. Nicht zuletzt durch diese Kooperation setzt das internationale Gemeinschaftsprojekt in künstlerischer wie geschichtsdidaktischer Sicht neue Maßstäbe.

Platz 2: Barry Windsor-Smith: „Monster“

Horrorstory, psychologisches Drama, Thriller, Kriegsgeschichte, metaphysische Odyssee – Barry Windsor-Smiths „Monster“ ist all das und noch viel mehr. Vor allem ist es ein herausragendes Comic-Kunstwerk, das mich auch bei der zweiten Lektüre umgehauen hat. Denn die tragische Geschichte des jungen Mannes namens Bobby Bailey, der durch ein geheimes Militärexperiment entstellt wird, sowie der ihn umgebenden Menschen besticht durch ihre handwerkliche Umsetzung. Neben den Texten, die gut die Atmosphäre der 1940er bis 1960er Jahre transportieren, zeigen die virtuosen Bilderfolgen einen Großmeister der Comic-Kunst auf dem Höhepunkt seines Schaffens.

Eine Szene aus „Monster“.

© Cross Cult

Mit viel schwarzer Tinte und Kreuzschraffur-Rastern hat Windsor-Smith hier im Laufe von rund 35 Jahren Bilder geschaffen, von denen sich jedes einzelne in gerahmter Form in einer Kunstgalerie gut machen würde. Nach und nach entfaltet sich eine alptraumhafte Handlung, die in Zeitsprüngen erzählt wird und sich langsam wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Jede noch so kleine Nebenfigur wird hier einfühlsam zum Leben erweckt, die realistischen Zeichnungen sind handwerklich makellos, die Dialoge lebensnah. Umso härter erwischen einen als Leser dann die teils surrealistisch anmutenden Höllenvisionen, mit denen Windsor-Smith das Leiden seiner Hauptfigur und einiger anderer wichtiger Akteure vermittelt.

Bestechend ist dabei neben den Perspektivwechseln, die den Leser nach und nach das Geschehen durch die Augen unterschiedlicher Akteure erleben lassen, auch die unglaubliche Liebe des Zeichners zum Detail: Jedes Haar der Figuren, jeder Grashalm, jedes Buch in im Hintergrund stehenden Regalen ist fein ausgearbeitet – man ahnt, dass die jahrzehntelange Arbeit an diesem Opus Magnum nicht nur externen Faktoren geschuldet war.

Platz 1: Virginie Despentes / Luz: „Vernon Subutex“

Dieses Buch habe ich anfangs nur aus Pflichtgefühl gelesen – und konnte es dann kaum noch aus der Hand legen. Das liegt zum Teil an der Story von Virginie Despentes über den Pariser Subkultur-Antihelden Vernon Subutex, deren Roman dem Comic zugrunde liegt. Vor allem aber liegt es am ungeheuren Einfallsreichtum des Zeichners Luz, der den Roman mit einer bildgestalterischen Genialität adaptiert hat, die ihresgleichen sucht. Virtuos nutzt der einstige „Charlie-Hebdo“-Zeichner die Möglichkeiten der Kunstform Comic und erweist sich ein weiteres Mal als großartige Bilderzähler, dessen Ausdrucksformen in vorigen Werken wie „Wir waren Charlie“ offensichtlich noch lange nicht ihren Zenit erreicht hatten.

Vielschichtige Lektüre: Eine Seite aus „Vernon Subutex“.

© Reprodukt

Das beginnt bei „Vernon Subutex“ schon beim Layout: Keine Seite sieht wie die andere aus, jedes Panel und jeder Bildausschnitt ist perfekt auf die Situation abgestimmt. Die Figurenzeichnung verbindet einen realistischen Strich mit karikierenden Elementen, manches ist eher skizzenhaft angedeutet, anderes bis ins letzte Detail ausgefeilt. Jeder Person ist eine eigene Farbdramaturgie zugeordnet. Dazu kommt ein souveränes Spiel mit Kontrasten zwischen hell und dunkel, bunt und schwarzweiß.

Luz’ Strich ist dynamisch und sprengt immer wieder die Panelgrenzen, der Absturz seiner Hauptfigur vom gefeierten Plattenladen-Besitzer zum Junkie in der Gosse vermittelt Luz in einem Strudel aus Bildideen, die teils surrealistisch wirken, visuelle Anleihen bei Plattencovern und anderen Popkultur-Vorbildern nehmen und immer wieder mit originellen Bildmetaphern überraschen. Zum Beispiel wenn die Hauptfigur die Rollläden seines Geschäfts zum letzten Mal schließt und dessen Linien dann zu Falten seines vom Alter gezeichneten Gesichts werden.

Der fließende Strich von Luz passt perfekt zum rauschhaften Leben, das hier beschrieben und mit viel Kultur- und Gesellschaftskritik aufgeladen wird. Die Lebensfreude wie auch die Verlorenheit der Hauptfigur und einiger anderer Akteure ist so fast physisch zu spüren. Auch hier freue ich mich schon sehr auf den zweiten Band, der in Frankreich bereits erschienen ist. Vielleicht eine gute Gelegenheit, die angestaubten Französischkenntnisse mal wieder zu aktivieren.

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