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Angehörige von Covid-Opfern demonstrieren vor dem Ort der Anhörungen der Corona-Untersuchung.

© AFP/JUSTIN TALLIS

Hexenjagd oder Vorbild für Deutschland?: Wie Großbritannien die Corona-Pandemie aufarbeitet

Eine große, unabhängige und öffentliche Untersuchung soll Fehler aufzeigen und Lehren ermöglichen. Doch schon kurz nach dem Beginn gibt es politische Grabenkämpfe.

Worte wie diese sind ungewöhnlich für einen Spitzenpolitiker: „Unsere ganze Strategie war falsch und das tut mir aus tiefstem Herzen leid. Ich bedauere jeden einzelnen Todesfall.“

Der Mann, der das sagt, ist Matt Hancock, britischer Gesundheitsminister von Juli 2018 bis Juni 2021 - und damit einer der Hauptverantwortlichen für die britische Corona-Politik. 

Nach offiziellen Angaben starben während der Pandemie in Großbritannien etwa 227.000 Menschen mit Corona, mehr als 24 Millionen Infektionen wurden registriert. In Deutschland waren es – bei deutlich mehr Einwohnern – rund 174.500 Tote und 38,4 Millionen registrierte Infektionen. Das Vereinigte Königreich bewältigte die Pandemie statistisch gesehen schlechter als andere Länder. 

Eine absolute Trägodie.

Der frühere britische Gesundheitsminister Matt Hancock über die Corona-Politik.

Wie konnte das passieren? Diese Frage beschäftigt ein Land, dessen Selbstvertrauen durch ständige Regierungswechsel, den harten Folgen des Brexits und steigenden Lebenshaltungskosten ohnehin angeschlagen ist.

Antworten soll ein unabhängiger Untersuchungsausschuss finden, seit Mitte des Monats auch mit öffentlichen Anhörungen. Am Dienstag nun hatte sich Ex-Gesundheitsminister Hancock rund drei Stunden den Fragen des Komitees unter Vorsitz der früheren Richterin Heather Hallett stellen müssen. 

Der „größte Fehler“ sei die Annahme gewesen, dass man eine Pandemie ohnehin nicht stoppen könne, erklärte Hancock. Stattdessen habe die Strategie darin bestanden, sich lediglich auf die Konsequenzen vorzubereiten. „Haben wir genug Leichensäcke? Wo können wir die Toten beerdigen? Aber das war der komplett falsche Ansatz, eine absolute Tragödie“, gestand Hancock ein.

Der frühere britische Gesundheitsminister Matt Hancock nach seiner Anhörung bei der Corona-Untersuchung.
Der frühere britische Gesundheitsminister Matt Hancock nach seiner Anhörung bei der Corona-Untersuchung.

© REUTERS/PETER NICHOLLS

Großbritannien ist eines der ersten Länder, dass die Corona-Pandemie umfangreich aufzuarbeiten versucht. Schon im Mai 2021 hatte der damalige Premierminister Boris Johnson die Untersuchung angekündigt - also noch mitten in der Pandemie. Allerdings nicht ganz freiwillig. Und manche, wie der Impfberater der Johnson-Regierung, John Bell, warnten vor einer „Hexen-Jagd“.

Doch nicht nur der politische Druck aus der Opposition war groß, auch Gewerkschaften, Ärzte-Verbände und Bildungseinrichtungen forderten eine Aufarbeitung. 

Wir wollen, dass die Regierung Lehren zieht, um künftig mehr Leben retten zu können.

Betroffenenvertreter Jack Rodgers

Und dann ist da noch die Betroffenenvereinigung „Covid-19 bereaved families for justice“ (Covid-19-Hinterbliebenenfamilien für Gerechtigkeit). Sie vertritt etwa 2800 Familien, die Angehörige durch die Pandemie verloren haben. Es war vermutlich ihr Druck und die Drohung mit langjährigen Gerichtsverfahren, die schließlich zu einer offiziellen Untersuchung geführt haben. 

„Wir wollen, dass die Regierung Lehren zieht, um künftig mehr Leben retten zu können“, sagte Betroffenenvertreter Jack Rodgers gegenüber CNN. Im juristischen Sinne verurteilt wird durch die Untersuchung am Ende niemand, es ist auch niemand angeklagt. Allerdings kann das Komitee Personen unter Eid befragen, was eine Lüge strafbar machen würde.

In Deutschland ist eine solche offizielle Untersuchung derzeit nicht in Sicht. Erst im April stimmte der Bundestag mit 577 zu 71 Stimmen gegen die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Den Antrag hatte die AfD-Fraktion gestellt.

Wissenschaftler fordern Aufarbeitung

Vor dem Bundesverfassungs- oder dem Bundesverwaltungsgericht wurden bislang nur einzelne Aspekte aus der Pandemie verhandelt, wie die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit oder die gesetzliche Grundlage für den ersten Lockdown 2020.

Doch den Wunsch nach einer systematischen Aufarbeitung gibt es weiterhin. Ebenfalls im April hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern einen Offenen Brief an die Bundesregierung gerichtet. Darin heißt es unter anderem: „Die Corona-Pandemie hat in unserem Land tiefe Spuren hinterlassen und eine unzureichende Krisenfestigkeit unserer Gesellschaft offenbart.“

Eine „offene, kritische und konstruktive ‚Nachbesprechung‘“ sei „unverzichtbarer Teil eines jeden professionellen Krisenmanagements. Dabei ist neben dem objektiven Lernprozess auch die integrative Wirkung einer offenen Debatte auf die Zivilgesellschaft wesentlich“.

Auch der Chef der kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, plädiert für eine Aufarbeitung. Alle ergriffenen staatlichen Maßnahmen müssten genau auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden, sagte Gassen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

„Ich sehe im Moment allerdings noch nicht, dass man das ernsthaft angeht. Einige Akteure, die in der Pandemie lautstark immer wieder immer noch härtere Maßnahmen gefordert hatten, sind ja mittlerweile komplett von der Bildfläche verschwunden“, kritisierte er.

Ob und wie heilsam eine systematische und öffentliche Untersuchung wirklich sein kann, muss sich auch in Großbritannien noch zeigen. Das Interesse an den ersten Anhörungen – neben Ex-Gesundheitsminister Matt Hancock wurde unter anderem Ex-Premier David Cameron befragt – war vergleichsweise gering, im Nachrichtenstrom waren sie neben den anderen Krisen im Vereinigten Königreich und der Welt jedenfalls kaum mehr als eine Randnotiz.

Britische Regierung will juristische Prüfung

Hinzu kommen politische Grabenkämpfe zwischen Boris Johnson und Rishi Sunak. Die aktuelle Regierung um Premier Sunak lehnt es ab, dem Untersuchungskomitee sämtliche Kommunikation aus der Pandemiezeit unzensiert zur Verfügung zu stellen – also zum Beispiel alle Briefe, Faxe, E-Mails oder Chatnachrichten. Nun soll juristisch geklärt werden, ob die Regierung dazu verpflichtet werden kann.

Aus Sicht der Hinterbliebenenvereinigung ein schlechtes Signal. „Dass die Regierung nun Hunderttausende Pfund an Steuergeldern ausgibt, um in einen Rechtsstreit mit dem von ihr berufenen Untersuchungskomitee zu gehen, ist absolut obszön“, erklärt Sprecherin Deborah Doyle.

Möglicherweise fürchtet Sunak, dass ihn nicht nur seine Entscheidungen als Schatzkanzler während der Pandemie einholen, sondern über den Umweg der Covid-Aufarbeitung auch seine Rolle beim Sturz seines Vorgängers Boris Johnson öffentlich werden könnte.

Mitten in London, gegenüber vom Parlament, steht die „Covid Memorial Wall“. Jedes Herz steht für ein Covid-Opfer in Großbritannien.
Mitten in London, gegenüber vom Parlament, steht die „Covid Memorial Wall“. Jedes Herz steht für ein Covid-Opfer in Großbritannien.

© REUTERS/TOBY MELVILLE

Und ausgerechnet dieser Boris Johnson hat nun bereitwillig und ohne Rücksprache mit dem Parteifreund seine persönliche Kommunikation ab April 2021 an das Komitee übergeben.

Das ist genug, um die Sunak-Regierung zu verärgern und lenkt gleichzeitig davon ab, dass das vermutlich brisantere Material aus der Zeit vor dem April 2021 weiterhin bei Johnson bleibt.

Kann die Untersuchung das Land also wirklich versöhnen mit der Corona-Politik? Oder zumindest eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Notlagen fördern, wie es Befürworter hoffen? Oder werden die Anhörungen zum Schauplatz für politische Schlammschlachten?

Am Freitag sagte die frühere schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon aus und nutze die Bühne für einen Rundumschlag gegen den verhassten Brexit. Dieser sei „gegen den Willen des schottischen Volkes passiert“, so Sturgeon und die Planungen haben dazu geführt, dass andere Themen weniger beachtet werden konnten. Wie die Vorbereitung auf eine Pandemie.

Die frühere schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nach ihrer Aussage vor dem Covid-Untersuchungsausschuss.
Die frühere schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nach ihrer Aussage vor dem Covid-Untersuchungsausschuss.

© REUTERS/Anna Gordon

„Ich bereue die Konsequenzen zutiefst, die die Brexit-Vorbereitungen auf unsere Notlagen-Planungen in anderen Bereichen hatten“, so Sturgeon.

Der Tag wird kommen, an dem auch Sunak und Johnson vor dem Untersuchungskomitee auftreten müssen. Ob das noch vor der nächsten Wahl passiert, die spätestens 2025 stattfinden wird, ist aber zweifelhaft. Mit einem Ende der britischen Covid-Aufarbeitung wird ohnehin nicht vor 2026 gerechnet.

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