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Aggression im Straßenverkehr nimmt zu.

© Getty Images

Rücksicht war gestern: Neue Studie zu Aggression im Straßenverkehr in Berlin vorgestellt

Drängeln, Rotfahren, Ausbremsen: Die Bereitschaft, für den eigenen Vorteil andere zu gefährden, wächst. Das zeigt eine neue Vergleichsstudie, die nun in Berlin vorgestellt wurde.

„Wenn ich mich über andere Autofahrer:innen ärgere, muss ich mich sofort abreagieren.“ Die Hälfte von knapp 1800 befragten Autofahrern kann sich das zumindest vorstellen oder bekennt sich offen dazu. Wenn es darum geht, auf der freien Spur am Stau vorbeizuziehen und sich weiter vorn wieder reinzudrängeln, sind sogar 53 Prozent zumindest gelegentlich dabei. Genauso viele wollen nicht ausschließen, dass sie bei Ärger „viel schneller als sonst fahren“. Und 44 Prozent treten auch mal kurz auf die Bremse, um einen Drängler zu ärgern.

Diese Beispiele sind vier von 16 Fragen, mit denen die Unfallforschung der Versicherer (UDV) die Bereitschaft zu aggressivem und oft gefährlichem Verhalten im Straßenverkehr ermittelt und mit den Ergebnissen früherer Befragungen verglichen hat. Die am Montag in Berlin präsentierte Auswertung zeigt, dass sich nahezu alle Werte gegenüber den Vorgängerstudien 2016 und 2019 verschlechtert haben, teilweise drastisch. Wer sich auf seinen Wegen durch Berlin und anderswo immer stärker von anderen Verkehrsteilnehmern drangsaliert fühlt, kann sich also bestätigt sehen.

Dass nur noch eine Minderheit ausschließt, bei Ärger aufs Gas zu drücken, nennt UDV-Chef Siegfried Brockmann „ein Alarmzeichen“. Dass 31 Prozent sich vorstellen können, die Lücke vor sich zuzumachen, um andere für unerlaubtes Überholen zu „bestrafen“, bezeichnet der Unfallforscher als „geradezu kriminell“. 2016 lag der Anteil noch bei 21 Prozent.

Auch die Bereitschaft, in zu kleine Lücken zu springen, auf der Autobahn rechts zu überholen, sich die Spur per Lichthupe freizuräumen oder die eigene Vorfahrt zu erzwingen, hat zugenommen. Und der Anteil derer, die sich möglicherweise mit mehr Alkohol im Blut als erlaubt ans Steuer setzen, hat sich gegenüber den beiden Vorgängerstudien sogar mehr als verdoppelt – auf 21 Prozent.

Unfallforscher Siegfried Brockmann vor seiner Arbeitsstelle an der Wilhelmstraße in Berlin.
Unfallforscher Siegfried Brockmann vor seiner Arbeitsstelle an der Wilhelmstraße in Berlin.

© Tagesspiegel/Lydia Hesse

Brockmann äußert sich zu den Ergebnissen ebenso entsetzt wie ratlos, zumal den Befragten das Gefahrenpotenzial solchen Verhaltens überwiegend klar ist. Zwei Indizien für die Verwahrlosung liefert die Studie: Nur 37 Prozent der Befragten sind in den letzten fünf Jahren in eine Polizeikontrolle geraten, ein Viertel noch nie. Und trotz des Problembewusstseins klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander: 93 Prozent beobachten, dass Radfahrer zu dicht überholt werden – aber nur vier Prozent sehen sich selbst als Teil dieses Problems.

Die meisten sehen sich selbst nicht als Teil des Problems

Bei den etwa 350 befragten Radfahrern ergaben sich ähnliche Diskrepanzen etwa zur Frage, ob man auch mal den linken Radweg oder den Gehweg benutzt. Nach Auskunft von Studienleiterin Tina Gehlert ist dieses tendenziell zu positive Selbstbild „ein klassisches psychologisches Problem“. Da die Aggression mit der Verkehrsdichte zunehme, dürften sich die Probleme in Großstädten wie Berlin besonders ballen, was allerdings statistisch nicht ausgewertet wurde.

Die Hauptzielgruppe werden wir nicht erreichen, wenn die Entdeckungswahrscheinlichkeit gegen null geht.

Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer

Das verzerrte Selbstbild verringert aus Sicht von Brockmann auch die Chancen, dass sich von Kampagnen für mehr Rücksicht überhaupt die Richtigen angesprochen fühlen. Außerdem sei Überwachungsdruck nötig: „Die Hauptzielgruppe werden wir nicht erreichen, wenn die Entdeckungswahrscheinlichkeit gegen null geht.“ Wer regelmäßig ungestraft auf der Busspur am Stau vorbeiziehe, werde belohnt und zeige den Vernünftigen, dass Regelbruch sich auszahlt.

44
Prozent der Autofahrer schließen nicht aus, dass sie während der Fahrt auf dem Handy Nachrichten lesen würden.

Im Kontrast zur allgemeinen Regelmissachtung steht die stabile Mehrheit von 56 Prozent aller rund 2000 Befragten, die sich im Straßenverkehr sicher fühlen. Allerdings sind die Werte bei Männern und bei über 35-Jährigen höher als bei Frauen und jungen Leuten. Motorradfahrer fühlen sich zwar weniger sicher als Auto- und Radfahrer, sind aber zugleich am deutlichsten gegen stärkere politische Aktivitäten – offenbar aus Sorge vor strengeren Regeln.

Die Zustimmungswerte für Tempo 30 in Städten sind gegenüber früheren Jahren ebenso gestiegen wie für Tempo 130 auf Autobahnen. Für Letzteres gibt es mit 53 Prozent eine absolute Mehrheit. Noch deutlicher ist die Zustimmung für eine verpflichtende Rückmeldefahrt ab 75 Jahren (59 Prozent) und eine Nullpromillegrenze für Kraftfahrer (68 Prozent). Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) lehnt all das ab.

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