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Eine Auszubildende im Motorradwerk in Spandau: Die Maschinen werden in alle Welt exportiert.

© dpa/Jens Kalaene

Umfrage der Berliner IHK: Jedes zweite Unternehmen sieht die EU-Vorschriften skeptischer als früher

Berlins Industrie- und Handelskammer (IHK) hat ihre Unternehmen mit Blick auf die Europawahl 2024 befragt. Unser Gastautor, der Präsident der IHK, zieht hier seine Schlussfolgerungen.

Ein Gastbeitrag von Sebastian Stietzel

In der größten Volkswirtschaft der Welt – den Vereinigten Staaten von Amerika – wählen im kommenden Herbst 330 Millionen Menschen ihren nächsten Präsidenten, und bereits die Vorentscheide über die Kandidaten sorgen weltweit für Nachrichten.

Schon in drei Monaten wählen über 450 Millionen Europäerinnen und Europäer im größten und wirtschaftsstärksten gemeinsamen Wirtschaftsraum – der Europäischen Union – ihr Parlament. Und kaum jemanden interessiert es. Auch in unserer Stadt, wenn wir mal ehrlich sind. Oder kennen Sie etwa die aktuellen Spitzenkandidatinnen und -kandidaten für Berlin?

Binnenmarkt ist das Herz von Europa

Es mag einfach sein, die Bedeutung Europas aus dem Blickfeld zu verlieren. Dabei ist es die Europäische Union, die uns das Reisen innerhalb von 27 Ländern ohne Passkontrollen ermöglicht, die zulässt, dass wir Waren und Dienstleistungen mit unseren Nachbarstaaten ohne Zollbeschränkungen tauschen können. Die sicherstellt, dass Investitionen und Kredite innerhalb der europäischen Staatsgrenzen frei getätigt werden können.

Mit Sorge sehe ich, dass für etwa die Hälfte der Berliner Unternehmen die Attraktivität der EU in den vergangenen fünf Jahren abgenommen hat. Nur acht Prozent konstatieren eine Verbesserung der Standortbedingungen.

Sebastian Stietzel, Präsident der Industrie- und Handelskammer Berlin (IHK)

Das wirtschaftliche Herz der EU ist der gemeinsame Binnenmarkt, der legislative Verstand ihr Parlament. Wie sehr auch die Berliner Unternehmen von diesen Vorzügen profitieren, hat jetzt eine Umfrage der Industrie- und Handelskammern untersucht.

Für das IHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl 2024 wurden dabei Unternehmen aus allen Branchen und Regionen befragt. Demnach bestätigt die große Mehrheit der befragten Berliner Unternehmen wichtige Errungenschaften der EU als konkreten Nutzen, auch für ihr Geschäft. Dazu zählen vor allem die Faktoren politische Stabilität (80 Prozent), eine gemeinsame, stabile Währung (71 Prozent) und der Zugang zu europäischen Märkten (65 Prozent).

Soweit die positiven Nachrichten. Mit Sorge sehe ich allerdings, dass für etwa die Hälfte der Berliner Unternehmen die Attraktivität der EU in den vergangenen fünf Jahren abgenommen hat. Nur acht Prozent konstatieren eine Verbesserung der Standortbedingungen, vielmehr sieht die Berliner Wirtschaft die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Ökonomie in Gefahr. Dieser Trend muss nach der Europawahl dringend gestoppt werden. Die Frage ist, wie?

Die IHK Berlin hat sich die größten EU-Hemmnisse für den Wirtschaftsstandort angesehen und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet, welche aus Sicht der Berliner Wirtschaft vorrangig umgesetzt werden müssen.

Bürokratieabbau dringlichste Aufgabe

An erster Stelle steht – wenig überraschend – der Abbau von Bürokratie. Eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent der Unternehmen sieht im Bürokratieabbau die mit Abstand dringlichste Aufgabe für die neue EU-Kommission und das neue Europäische Parlament.

Die Berliner Wirtschaft ist geprägt von vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). In diesen KMU sind die Herausforderungen Europas ganz konkret spürbar – und zwar durch eine Regulierungsflut, die immer neue und zusätzliche Anforderungen und Dokumentationspflichten über die Unternehmen ergießt.

„One-In-One-Out“ – also für jede neue Verordnung muss eine vorhandene Verordnung gestrichen werden? Davon ist nichts zu spüren. 2022 wurden zum Beispiel mehr als 2000 neue Rechtsakte verabschiedet, dafür aber nur 534 aufgehoben. Das muss sich ändern. Die „One-In-One-Out“-Regel muss konsequent umgesetzt werden.

Das zweite zentrale Thema – vor allem seit Beginn des russischen Angriffskriegs – ist eine sichere (und bezahlbare) Energieversorgung. Rund 80 Prozent der Berliner Unternehmen waren im vergangenen Jahr mit höheren Energiepreisen konfrontiert. Um internationale Wettbewerbsnachteile durch steigende Energiekosten zu vermeiden, braucht es einen starken Energiebinnenmarkt, unter anderem durch die Schaffung eines europäischen Stromverbunds sowie die Umsetzung marktnaher Lösungen bei der Umstellung der Energiesysteme. Der Ausbau der erneuerbaren Energien im Einklang mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist auf EU-Ebene koordiniert und prioritär voranzutreiben.

Auch beim Thema digitale Innovationen ist Europa gefordert, diesbezügliche Regelungen haben direkte Auswirkungen auf Berlin als Technologiehauptstadt und Sitz vieler innovationsstarker Unternehmen.

Aus Berlin kommt ein Drittel der deutschen KI-Start-Ups. Damit schlummert in der Hauptstadtregion ein enormes Potenzial an digitaler Innovationskraft. Um diese Innovationskraft bestmöglich zu nutzen, bedarf es jedoch zwingend europäischer Rahmenbedingungen, die digitale Innovationen unterstützen und technologische Lösungen „made in Europe“ im internationalen Wettbewerb stärken.

Wir haben bei den Themen Deeptech und Künstliche Intelligenz (KI) schon jetzt einen Rückstand zu außereuropäischen Wirtschaftsräumen. Und man kann nur davor warnen, den digitalen Fortschritt in Europa durch bürokratische Hürden und Überregulierung zu ersticken.

400.000
Fachkräfte werden in Berlin bis 2035 voraussichtlich fehlen.

Europa spielt nicht zuletzt auch bei der Fachkräftesicherung eine zentrale Rolle. Bis zum Jahr 2035 werden in Berlin mehr als 400.000 Fachkräfte fehlen. Schlüssel zur Fachkräftesicherung sind daher auch die arbeitsmarktorientierte Zuwanderung aus Drittstaaten und die erfolgreiche Integration von Geflüchteten.

In beiden Bereichen sollte die EU ihre Aktivitäten verstärken. Auch das deutsche Erfolgsmodell der dualen Ausbildung sollte mit Blick auf diese Notwendigkeiten reformiert werden. Gleichzeitig könnte eine bessere Koordinierung der Fluchtzuwanderung auf EU-Ebene auch die Berliner Behörden entlasten, die dann mehr Kapazitäten für Integrationsleistungen hätte.

Europapolitik ist Berlinpolitik

Bereits diese Beispiele verdeutlichen: Europa und die Europäische Union sind nicht abstrakt. Im Gegenteil: Berliner Unternehmen spüren sie jeden Tag in ihrem betrieblichen Alltag, auf gute wie auf zeitraubende Weise.

Und gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir als Wirtschaft die Stimme nutzen und sagen, worauf es aus unserer Sicht ankommt. Für den Wirtschaftsstandort Berlin – als Teil des europäischen Wirtschaftsraums. Das neu zu wählende EU-Parlament wird das Leben der 450 Millionen Menschen in der EU prägen und damit auch das Leben von uns fast vier Millionen Berlinerinnen und Berlinern. Machen Sie also mit, nutzen Sie Ihr Wahlrecht am 9. Juni, denn Europapolitik ist Berlinpolitik.

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