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Kann Eigenverantwortung genauso stark wirken, wie politisch auferlegte Regeln?

© PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS/Joel Goodman

Heute vor 2 Jahren: Als England beschloss, mit dem Coronavirus zu leben

Am 19. Juli 2021 hat England den „Freedom Day“ erklärt und so gut wie alle Corona-Maßnahmen aufgehoben. Heute laufen Anhörungen zur Reaktion der Regierung auf die Pandemie. Wurde die Bevölkerung genug geschützt?

Eine Kolumne von Miray Caliskan

Es war der Tag, an dem das Narrativ „Wir müssen mit dem Coronavirus leben“ in einen praktischen Versuch umgesetzt wurde: England erklärte den 19. Juli 2021, heute vor gerade einmal zwei Jahren, zum „Freedom Day“, Freiheitstag.

Über Nacht sind dabei nahezu alle Corona-Maßnahmen gefallen. Keine Maskenpflicht in Innenräumen, keine Isolationspflicht bei einem positiven Test, keine Abstandsregeln, Kapazitätsbeschränkungen in Kinos oder Restaurants, keine Impfstatuskontrolle oder Kontaktbeschränkungen im privaten Bereich.

Die Corona-Maßnahmen sollten, so die Ambition der britischen Regierung, freiwillig eingehalten werden. Ab dem 19. Juli wurde der Infektionsschutz zur Privatsache. Die Hoffnung: Eigenverantwortung wirkt genauso stark wie politisch auferlegte Regeln.

Zwar hatte niemand erwartet, dass die Maßnahmen für immer gelten. Schon gar nicht, weil die Leute irgendwann risikomüde werden. Aber alle Schutzdämme inmitten einer Pandemie einfach abbauen?

Im Sommer 2021 fegte nämlich die Delta-Variante durch England. Für den damaligen Premierminister Boris Johnson stellte das keinen Grund zur Sorge dar. „Der 19. Juli ist der Endpunkt. Ab diesem Tag werden wir zu einem Leben wie vor der Covid-Pandemie zurückkehren können“, sagte er vor Reporter:innen. Wie er sich irren sollte.  

Gingen die Infektionszahlen im Sommer wie erwartet langsam zurück, stiegen sie im Herbst drastisch an. 50.000 Neuinfektionen pro Tag wurden im Oktober 2021 registriert. Das Gesundheitssystem ächzte unter den vielen schwer kranken Corona-Patient:innen. Expert:innen warnten immer wieder vor einem Kontrollverlust. Und die Regierung sah sich gezwungen, mit der Ausbreitung der Omikron-Variante zurückzurudern – im Dezember 2021 wurden einige Corona-Maßnahmen wieder eingeführt.

Briten und ihre Skandale

Im Nachhinein kann man nicht genau sagen, ob die Lockerung der Maßnahmen zu diesem düsteren Verlauf geführt hat. Es gibt keine Studien dazu, aber dafür etliche Einschätzungen von Forschenden. Sie waren sich einig, dass die Regierung es versäumt hatte, aus der Pandemie und dem klagenden Gesundheitssystem zu lernen. Auf die sich anbahnende Welle sei zu spät und zu lasch reagiert worden.

Die Instrumente, damit die Menschen eigenverantwortlich hätten handeln können, seien zu den ungünstigsten Zeiten abgeschafft worden, etwa die kostenlosen Corona-Tests. „Die Bekämpfung einer Pandemie hängt nicht nur von der Motivation des Einzelnen ab, sondern auch von den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung gestellt (oder nicht bereitgestellt) werden“, schrieb eine Gruppe in „BMJ“.

In einer Pandemie kommt politisch Verantwortlichen eine besonders wichtige Rolle zu: Sie müssen als Vorbilder agieren. Die Briten dagegen wurden für ihre Skandale bekannt: Johnson wurde wegen illegaler Lockdown-Partys massiv kritisiert. Er hatte wegen seiner Teilnahme selbst einen Strafbefehl erhalten und ist damit der erste britische Regierungschef, der sich während seiner Amtszeit strafbar gemacht hat. Bis zu seinem Rücktritt stritt er jegliches Fehlverhalten ab. Die Frage ist nur, wie lange er damit durchkommt.

Denn im Juni 2023 hat in London die erste öffentliche Anhörung stattgefunden. Bis 2026 soll festgestellt werden, ob die britische Regierung ausreichend auf die Pandemie vorbereitet war und ob die Maßnahmen angemessen waren.

Im Vereinigten Königreich sind etwa 227.000 Menschen nach einem schweren Covid-19-Verlauf gestorben. Die Pro-Kopf-Todesfallzahlen in Zusammenhang mit Corona dort zählen insgesamt zu den höchsten in Europa.

Lesen Sie alle bisher erschienenen Folgen der „Tagesrückspiegel“-Kolumne hier.

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