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500 Euro mehr im Monat fordert Verdi für die 2,5 Millionen Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst.

© Jürgen Heinrich/picture alliance

Stress in der Tarifbeziehung: Warum es so viele Streiks gibt

Die starke Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns wirkt sich auf das Tarifgeschehen aus. Den nächsten Streik bei der Bahn gibt es vermutlich am 27. März.

Dieses Frühjahr wird aus verschiedenen Gründen teuer für die Arbeitgeber. Die Gewerkschaften orientieren sich mit ihren Tarifforderungen an der hohen Inflationsrate. Und da in den vergangenen Coronajahren die Einkommenserhöhungen mickrig ausfielen, gibt es Nachholbedarf.

Schließlich strahlt der Arbeitnehmermarkt zunehmend auf das Tarifgeschäft aus. Arbeitskräfte sind inzwischen überall ein knappes Gut; das verbessert die Verhandlungsposition der Gewerkschaften und erhöht die Zahlungsbereitschaft der Arbeitgeber. Und dann ist da noch die Erhöhung des Mindestlohns.

„Die starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 9,82 Euro im Januar, auf 10,45 Euro im Juli und schließlich zwölf Euro ab Oktober bewirkte bei manchen Branchenmindestlöhnen auch deutliche Steigerungen“, schreiben die Tarifexperten der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung. So erhöhte sich in der Gebäudereinigung der Mindestlohn um 12,6 Prozent, in der Pflegebranche um bis zu 16,8 Prozent und in der Leiharbeit um 18,9 Prozent.

Festbetrag statt Prozente

Auch bei Post und Bahn und an den Flughäfen gibt es mehr oder weniger große Billiglohnbereiche, für den die Gewerkschaften in diesen Wochen viel herausholen möchten. Vier Flughäfen, darunter den BER, hat Verdi am Montag weitgehend vom Netz genommen.

Dabei geht es gar nicht um die „normalen“ Tarifeinkommen, über die wird Anfang 2023 verhandelt, sondern höhere und einheitliche Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit der rund 20.000 Sicherheitsleute an den Flughäfen. Da es bislang noch keinen Verhandlungstermin mit dem Bundesverband der Luftsicherheitsfirmen gibt, sind weitere Streiks wahrscheinlich.

Inflationsausgleich bei der Post

Bei der Post wurde mit der Tarifeinigung vom Sonnabend ein Arbeitskampf verhindert. Vor allem die unteren Einkommen profitieren von den vereinbarten Festbeträgen, die es statt Lohnprozente gibt: je geringer das Einkommen, desto größer der prozentuale Zuwachs.

105.000 der 160.000 Tarifbeschäftigten bei der Post sind Zustellerinnen und Zusteller, deren Einkommen zwischen 2300 und 3090 Euro liegt. „Mit diesem Tarifergebnis wird unser wichtigstes Ziel, einen Inflationsausgleich insbesondere für die unteren Einkommensgruppen zu schaffen, erreicht“, freute sich Verdi-Vize Andrea Koscis über den Post-Abschluss. In den unteren Einkommensgruppen haben Gewerkschaften in der Regel die meisten Mitglieder.

Die Wut unserer Kolleginnen und Kollegen ist riesengroß.

Eisenbahnergewerkschaft EVG

Bei der Bahn setzen die Tarifparteien am Dienstag im Anschluss an eine EVG-Demo vor dem Berliner Hauptbahnhof die Verhandlungen fort. „Die Wut unserer Kolleginnen und Kollegen ist riesengroß“, sagen die Funktionäre der Eisenbahngewerkschaft EVG, da die Bahn noch kein Angebot vorgelegt habe.

„Eine Klärung der Mindestlohnthematik steht für uns im Fokus“, schreiben die Verhandler der Gewerkschaft an Martin Seiler, den Personalvorstand der Bahn. „Hierzu erwarten wir eine konstruktive Lösung, bevor wir uns in der Lage sehen, weitere Themen aufzurufen.“ Seiler wird am Dienstag voraussichtlich noch kein Angebot auf den Tisch legen, sondern mit der EVG darüber reden, welche Forderungen Priorität haben. Wenn das geklärt ist, könnte es am Mittwoch ein Angebot geben.

Bahnstreik am 27.3. realistisch

Die Gewerkschaft fordert für 180.000 Bahn-Beschäftigte mindestens 650 Euro mehr Lohn; zuzüglich ein paar Dutzend weiterer Spezialwünsche hat Seiler ein Kostenvolumen von 2,5 Milliarden Euro oder 25 Prozent ausgerechnet; das sei nicht finanzierbar.

Die Bahn stellt sich auf eine weitere Unterbrechung der Verhandlungen durch die EVG am Dienstagabend ein und auch auf einen Warnstreik am 27. März. Das ist realistisch. Denn die EVG verhandelt nacheinander mit der Bahn und 50 weiteren Bahn-Betreibern hierzulande. Die erste Runde endet am 23. März, dann zieht die Gewerkschaft Bilanz und wird vermutlich für den 27. März einen bundesweiten Warnstreik durchführen, um Druck zu machen.

Der nächste Termin mit Seiler steht erst Ende April an. Ob es bis dahin weitere Warnstreiks geben wird, hängt auch vom Angebot der Bahn ab. Wenn es zu niedrig ist, erleichtert es der Gewerkschaft die Mobilisierung der eigenen Leute. Mit jedem Streik steigen indes auch die Erwartungen der Beschäftigten.

Verhandlungen am 27.3.

Das gilt auch für den größten Konflikt in diesem Frühjahr: Verdi fordert 10,5 Prozent oder mindestens 500 Euro pro Monat für die 2,5 Millionen Beschäftigten der Kommunen und des Bundes. Mit den 500 Euro werden auch hier die unteren Einkommen in den Blick genommen. Gegen die eigene Gewohnheit haben die kommunalen Arbeitgeber bereits in der zweiten Verhandlungsrunde im Februar ein Angebot vorgelegt: insgesamt 2500 Inflationsprämie in diesem und im nächsten Jahr sowie fünf Prozent binnen 27 Monate.

Für Verdi, den Beamtenbund und die ebenfalls beteiligten Gewerkschafter der Lehrer und Polizisten war das eine Provokation – und kam wie gerufen, um die Basis in Wallung zu bringen. „Wir haben eher Probleme, die Leute vom streiken abzuhalten“, beschreibt ein Verdi-Sprecher die Stimmung.

Bahn-Personalvorstand Martin Seiler hat anstrengende Wochen vor sich.

© dpa / dpa/Michael Kappeler

Die Zuspitzung von Tarifkonflikten nutzen die Gewerkschaften zur Mitgliederwerbung. Das gilt für die EVG, die sich gegenüber der Lokführergewerkschaft GDL behaupten muss, ebenso wie für Verdi. Die Dienstleistungsgewerkschaft, mit 1,8 Millionen Mitgliedern die größte deutsche Gewerkschaft nach der IG Metall (2,15 Millionen), hat in diesem Jahr bereits knapp 50.000 neue Beitragszahler gewonnen.

Verdi-Chef Frank Werneke, seit 2019 im Amt, will im September auf dem Bundeskongress wiedergewählt werden. Mehr Mitglieder sind dabei hilfreich – und ein hoher Tarifabschluss im öffentlichen Dienst.

Bis zum entscheidenden Verhandlungstermin am 26. März in Potsdam müssen die Bürger immer wieder mit Streiks rechnen, die in der Regel nach Berufsgruppen organisiert sind – vergangene Woche traf es die Kitas, in dieser Woche die Krankenhäuser, dazu immer wieder Müllabfuhren und regionale Verkehrsbetriebe.

Das kostet viel Geld: Wenn die Gewerkschaftsmitglieder länger als vier Stunden streiken, haben sie Anspruch auf Streikgeld aus der Gewerkschaftskasse. Auch deshalb hat Verdi auf einen unbefristeten, teuren Arbeitskampf bei der Post verzichtet: die Mittel aus der Streikkasse werden für den öffentlichen Dienst und den Druckaufbau vor dem 26. März gebraucht.

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