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Trübe Aussicht. Die Wirecard AG meldete im Juni 2020 Insolvenz an und löste damit einen politischen Skandal aus. Ein vom Bundestag eingesetzter Untersuchungsausschuss sollte das Fehlverhalten klären.

© Foto: picture alliance / Reuters / Lisi Niesner

Wirecard, RBB, Kirchen: Verschleierte Realitäten

Der Wirtschaftswissenschaftler Max Braun hat Mechanismen untersucht, die zu Fehlverhalten in Unternehmen und Organisationen führen

Der Fall Wirecard gilt als der größte Wirtschaftskrimi der deutschen Geschichte. Im Sommer 2020 musste das Dax-Unternehmen, das international lange als Börsen-Star bejubelt wurde, Insolvenz anmelden. Grund für die Pleite des Finanztechnologie-Unternehmens war ein Bilanzbetrug in Milliardenhöhe. Als der aufflog, kam es zum Zusammenbruch, der Aktienwert brach in kurzer Zeit um 13 Milliarden Euro ein. Nicht nur der deutsche Finanzmarkt wurde schwer erschüttert. Tausende Mitarbeiter verloren ihre Jobs. Zehntausende Menschen verloren viel Geld. Und auch das Vertrauen in die deutsche Politik, die Aufsichtsbehörden und das Wirtschaftssystem hierzulande wurde beschädigt.

Wirecard zählt für den Wirtschaftswissenschaftler Max Braun von der Freien Universität Berlin als das prominenteste Beispiel dafür, was in Unternehmen schiefgehen kann und wie sich solches Fehlverhalten gesamtgesellschaftlich auswirkt. In seiner 2021 fertiggestellten Dissertation beschäftigte er sich mit der Frage, wie es zu Wirtschaftskriminalität kommt. Seine Doktorarbeit „Four Essays on the Antecedents of Financial White-Collar Crime“ wurde mit summa cum laude bewertet. In den vergangenen Wochen erhielt der 35-Jährige dafür gleich zwei Auszeichnungen – zuerst bekam er den Promotionspreis des Deutschen Instituts für Compliance in Berlin, dann wurde er mit dem mit 10.000 Euro dotierten zweiten Preis des „Roman Herzog Forschungspreis Soziale Marktwirtschaft“ in München geehrt. Die Persönlichkeit von Führungskräften hat einen Einfluss auf unethische Handlungsweisen eines Unternehmens

Unternehmen mit weiblichem Führungspersonal neigen zu weniger Betrug und Fehlverhalten

Konkret analysierte der Wirtschaftswissenschaftler Strukturen in Unternehmen, die Fehlverhalten begünstigen oder verhindern. Dazu gehören zum Beispiel die Besetzung von Spitzenpositionen, Persönlichkeitsmerkmale von Führungskräften, die Arbeit von Kontrollgremien, aber auch die Art der externen Unternehmenskommunikation. So fand er heraus, dass die individuelle Persönlichkeit von Führungskräften – ob diese zum Beispiel negative Konsequenzen bei schlechterer Performance eher vermeiden wollen und wie sie auf finanzielle Anreize ansprechen – einen starken Einfluss darauf hat, ob ein Unternehmen eher unethisch handelt und zu aggressiven Bilanzmanipulationen neigt.

 Mit Sprache kann man unerwünschte Fakten ein bisschen zuschütten, Menschen ein bisschen vernebeln und eine alternative Realität darstellen.

Max Braun, Wirtschaftswissenschaftler an der Freien Universität Berlin

Dagegen wirkt sich mehr Diversität im Vorstand oder im Aufsichtsrat demnach mildernd auf Fehlverhalten aus. Max Braun untersuchte vor allem den Aspekt der Geschlechterdiversität. Börsennotierte Unternehmen, deren Vorstände oder Aufsichtsräte auch mit Frauen besetzt sind, „neigen tendenziell weniger zu Bilanzmanipulationen“, konstatiert der Wirtschaftswissenschaftler.

Betrug und Fehlverhalten spiegeln sich aber auch in der Kommunikation der Firmen und Konzerne wider. „So wie wir als Menschen Sprache, Körperhaltung und Mimik ändern, wenn wir nicht die Wahrheit sagen, ist es auch bei Unternehmen“, sagt Max Braun. Er fand heraus, dass Firmen, die ihre Bilanzen aggressiver ausgestalten und dies verschleiern wollen, in Aktionärsbriefen deutlich komplexere und längere Satzstrukturen verwenden, die somit schwerer verständlich sind. „Es gibt weniger Inhalt pro Satz“, sagt der Forscher. Zudem äußern sich solche Unternehmen deutlich seltener zu finanziellen Themen. Und sie nutzen häufiger Fotos in ihren Aktionärsbriefen. Unternehmen, die zu Fehlverhalten neigen, wollen in ihrer Außenwirkung also oftmals eine Form von Emotionalität ansprechen. Der Wirtschaftswissenschaftler bestätigt damit auch Ergebnisse aus der Psycholinguistik: „Mit Sprache kann man unerwünschte Fakten ein bisschen zuschütten, Menschen ein bisschen vernebeln und eine alternative Realität darstellen.“

Doch solche Faktoren gelten dem Forscher zufolge nicht nur in der Wirtschaft. Im Gegenteil: Unternehmen sind in ihren Transparenz- und Kontrollstrukturen vergleichsweise schon viel weiter als andere große Organisationen: „Die Mechanismen, die zu besonders aggressivem Fehlverhalten führen, sind eigentlich immer die gleichen. Sie wirken nicht nur in Unternehmen, sondern zum Beispiel auch in Einrichtungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in den Kirchen oder in Vereinen.“

Der RBB und die Kirche zeigen einen Mangel an modernen, funktionierenden Kontrollmechanismen

Parallelen erkennt der Forscher auch etwa bei der aktuellen Affäre des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) und dessen ehemaliger Intendantin Patricia Schlesinger. „Wir sehen eine Skandalisierung um Gier, mögliche Vetternwirtschaft oder mögliche Veruntreuung von öffentlichen Geldern“, sagt Max Braun. Was es genau ist, werden die juristischen Ermittlungen ergeben. Doch das Versagen von Führungs- und Kontrollstrukturen in einer Organisation mit breitem gesellschaftlichem Einfluss sei ähnlich wie in Unternehmen, die Fehlverhalten zeigen. Und auch zum Beispiel die diversen Skandale in den Kirchen der vergangenen Jahre – zu denen neben den massiven Fällen sexuellen Missbrauchs auch finanzielle Verfehlungen gehören – zeugten von fehlenden Compliance-Regeln und dem Mangel an modernen, funktionierenden Kontrollmechanismen, ist der Forscher überzeugt.

Was Max Braun unter anderem antreibt, ist die Frage, wie das bestehende Wirtschaftssystem in Deutschland verbessert werden kann. Und wie dabei immer Teilhabe, Gerechtigkeit, individuelle Freiheit und Wohlstand verknüpft werden können. „Wenn in der Gesellschaft neue gesellschaftliche Werte entstehen – wie etwa Nachhaltigkeit – dann müssen Unternehmen das in ihr Handeln integrieren“, sagt Max Braun.

Das System der sozialen Marktwirtschaft habe den entscheidenden Vorteil, dass der wirtschaftliche Aspekt mit sozialen und gesellschaftlichen Aspekten permanent austariert werden müsse – auch oder gerade „weil Unternehmen großen Einfluss haben mit positiven und negativen Auswirkungen auf Menschen“. Er will künftig weiter erforschen, was verantwortungsvolle Unternehmensstrukturen ausmacht und was die Wahrnehmung von Unternehmensverhalten beeinflusst.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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