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Hans Leitner, Leiter der Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg.

© ZB

„Wir werden auch in Zukunft mit toten Kindern leben müssen“: „Wir müssen uns immer wieder fragen, ob wir aufmerksam genug waren“

Hans Leitner von der Fachstelle Kinderschutz über Fälle, die nicht verhindert werden können – und solche, die verhindert werden müssen

Von Sandra Dassler

| Update:

Herr Leitner, in der Stadt Brandenburg/Havel ist ein Dreijähriger gestorben, der möglicherweise hätte gerettet werden können, wenn der von seiner Mutter angeforderte Notarzt gekommen wäre. In Rathenow ist ein Säugling fast verhungert, obwohl das Jugendamt wusste, dass seine Mutter Probleme hatte. Warum funktioniert das Kinderschutz-System im Land nicht?

Das System an sich funktioniert, es hat allerdings regionale Schwächen. Und manchmal versagt es tatsächlich, was dann zur Katastrophe führt: zum Schlimmsten aller Fälle, dem Tod des Kindes.

Das klingt fast so, als müsse man sich damit abfinden?

Das darf man natürlich nicht. Aber noch immer gilt, dass sehr viele  vorsätzliche oder fahrlässige Fälle, bei denen Kinder zu Tode kommen, nicht verhindert werden könnten.

Warum?

Das hat unter anderem damit zu tun, dass etwa ein Drittel aller Kindstötungen sogenannte Neonatizide sind, also Tötungen von Neugeborenen in der Regel unmittelbar nach der Geburt.

Da helfen auch Babyklappen und die Möglichkeit von anonymen Geburten nichts?

Nein. Diese Taten werden bis auf wenige Ausnahmen durch Mütter verübt, die ihre Schwangerschaft bis zur Geburt geheim gehalten haben – oft übrigens auch vor sich selbst. Dann kommt dieses Kind „plötzlich“ zur Welt und soll einfach nur wieder weg sein. Die Tötungen erfolgen dann als absolute Stress- und Panikreaktion, die können wir nicht verhindern, auch wenn wir noch so tolle Hilfsangebote und soziale Strukturen haben. Insofern werden wir auch in Zukunft mit toten Kindern leben müssen.

Das klingt schrecklich fatalistisch…

Es heißt aber nicht, dass wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun sollten, um Kinder zu retten. Und dafür müssen wir uns immer wieder fragen, ob wir aufmerksam genug waren.

Was müsste man da verbessern?

Wir müssen uns unter anderem dringend um bessere Umsetzung präventiver Angebote kümmern und um die Frage, wie man bestimmte Familien überhaupt erreichen kann. Da sind zum Beispiel auch Ärzte oder Lehrer noch mehr als bisher gefragt, die ja oft die schwierigen Familienverhältnisse kennen. Sie können den Betroffenen Brücken zu Hilfsangeboten bauen. Die Strukturen sind da, aber viele kennen sie gar nicht. Wer weiß schon, dass es in Brandenburg in jedem Jugendamt Koordinatoren für frühe Hilfen und für Kinderschutz gibt?

Hat dieses Nicht-Wissen vielleicht auch damit zu tun, dass die Öffentlichkeit weniger informiert und auch weniger sensibilisiert für das Thema ist als vor fünfzehn, zwanzig Jahren? Als etwa der Fall des sechsjährigen Dennis aus Cottbus, der 2001 verhungerte und 2004 in der Tiefkühltruhe seiner Eltern gefunden wurde, für Entsetzen sorgte. Oder der Tod der fünfjährigen Lea Sophie, die 2007 in Schwerin verhungerte, obwohl das Jugendamt entsprechende  Hinweise der Großeltern hatte.

Diese schrecklichen Fälle haben nicht nur Entsetzen ausgelöst, sondern auch dazu geführt, dass sich in Deutschland und auch im Land Brandenburg sehr vieles in Sachen Kinderschutz getan hat. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass die Menschen weniger informiert oder sensibilisiert sind. Dafür spricht auch, dass im Jahr 2009 in den 18 Jugendämtern Brandenburgs rund 3500 Gefährdungsfälle von Kindern registriert wurden. 2020 waren es 7500, also mehr als doppelt so viele. Das ist aber keineswegs das Ergebnis von mehr Gewalt, sondern von mehr Aufmerksamkeit: 2009 musste in 85 Prozent der Fälle sofort eingegriffen werden, 2020 nur in 40 bis 60 Prozent. Das lag daran, dass die Fälle weniger dramatisch waren und früher gemeldet wurden.

Ist diese Verdopplung der Kinderschutzfälle mit dem Stellenabbau in den Jugendämtern vereinbar?

Die Stellen sind ja da, es gab keinen Abbau. Leider können aber viele davon in den Jugendämtern des Landes nicht besetzt werden, weil die Fachkräfte fehlen.

Um noch einmal auf die beiden eingangs erwähnten Fälle in Brandenburg/Havel und Rathenow zurückzukommen - sind sie vergleichbar?

Nur in Bezug auf den Anspruch, sich niemals auf die Meinungen oder die Aussagen von Dritten zu verlassen, wann immer es um den Schutz von besonders auf Hilfe angewiesenen Kindern geht. Ärzte und andere Mediziner, Jugendamtsmitarbeiter oder Sozialarbeiter, kurz: alle professionell am Kinderschutz Beteiligten müssen im Zweifel immer jemanden losschicken, der eine Situation vor Ort dann auch  professionell einschätzen kann.

Wie kann man das erreichen?

Man muss alle professionellen Kräfte immer wieder entsprechend schulen und sensibilisieren. Und alle müssen zusammenarbeiten. Die meisten dieser Fälle sind extrem komplex. Das hat beispielsweise auch die von Ihnen schon erwähnte Tragödie um die kleine Lisa Marie 2008 in Schwerin gezeigt. Der Fall wurde wissenschaftlich aufgearbeitet. Das Ergebnis hat bestätigt, was alle, die im Kinderschutz arbeiten, eigentlich längst wissen.

Und das wäre?

Wenn ein Kind stirbt oder anderweitig zu Schaden kommt, hat immer mindestens eine Stelle unangemessen gehandelt: entweder in der Familie oder im professionellen Kinderschutz-System. Es gibt auch nie nur eine Ursache für das Versagen von Eltern oder Professionellen. Und bei Fehlentscheidungen von Amtsmitarbeitern spielt meist das Umfeld in der Behörde und der mangelhafte Informationsaustausch eine große Rolle. Man darf aber trotz allem nicht vergessen: Wir hatten in den vergangenen Jahren durchschnittlich 7500 Kinderschutzfälle. In durchschnittlich 7496 Fällen konnten wir helfen.

(Mit Hans Leitner sprach Sandra Dassler)

Hans Leitner, Diplom-Pädagoge und Erzieher, leitet die Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg seit ihrer Gründung im Jahr 2006. Sie unterstützt Jugendämter und deren Partner in allen Fragen des Kinderschutzes. Außerdem bietet sie auf ihrer Website www.fachstelle-kinderschutz.de Krisenberatung für alle an.

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