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Außer dem kyrillischen Alphabet und der gleichen Muttersprache teilt Autor Yuriy Gurzhy wenig mit russischen Bekannten.

© IMAGO / Design Pics

Ukrainisches Kriegstagebuch (180): Die gleiche Sprache

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

17.11.2023

„Noch nie habe ich mich in diesem Land so sicher gefühlt wie zurzeit bei meinen Lesungen“, kündige ich am Anfang der Lesung im Jüdischen Museum in München an. Mit diesen Worten bedanke ich mich bei den Sicherheitskräften. Zwar sehe ich nicht so viele wie vor ein paar Tagen in Hanau, aber ihre Präsenz ist deutlich spürbarer als zuvor.

Während ich aus meinem Buch über jüdische Musik vorlese, überkommt mich das Gefühl, dass einige Aussagen meiner Interviewpartner*innen vor drei Jahren exakt zur heutigen Situation passen. Eine angenehme Empfindung ist es nicht.

Stille im Publikum

Bei einer Passage aus unserem Gespräch mit der Sängerin und Schauspielerin Vivian Kanner muss ich kurz innehalten, da der Kloß in meinem Hals einfach zu groß wird: „Ich konnte bis heute für mich nicht herausfinden, was schlimmer war: die Raketen von Hamas oder die skandierenden Horden von primitiven Menschen, die hasserfüllt durch Deutschland laufen und den Juden den Tod wünschen durften.“ Auch mein Publikum bleibt ganz still.

Heute in Berlin muss ich an einen anderen Satz aus dem Buch denken, gesagt von dem Rapper und Theatermacher Dan Wolf aus Kalifornien. Als er von einem deutschen Theaterregisseur erzählte, meinte er: „Sein Englisch war genauso schwach wie mein Deutsch, aber wir haben trotzdem eine Sprache gesprochen“.

Ein alter Kumpel, der in Israel aufgewachsen ist und inzwischen permanent auf Europatour ist, kam für wenige Tage nach Berlin und lud mich zum Abendessen ein. Er meinte, es würden noch drei andere Freunde kommen.

Ich bin etwas spät dran, wir umarmen uns und ich nehme meinen Platz am Tisch neben den anderen Gästen ein. Schnell bemerke ich, dass ausschließlich Russisch gesprochen wird, und mir wird bewusst, dass ich in dieser kleinen Runde höchstwahrscheinlich der einzige Ukrainer bin.

In den Jahren seit der Krim-Annexion hat sich die Anzahl der russischen Bekanntschaften in meinem Freundeskreis allmählich verringert, bis kaum noch welche übrig waren. Es wurde plötzlich offensichtlich, dass wir uns bei einigen Fragen nicht mehr verstehen. Ich hatte auf die Reaktion der russischen Kulturschaffenden auf den Kriegsausbruch gewartet – in der Hoffnung, dass sie sich über das brutale Vorgehen ihrer Regierung und der Armee empören würden. Doch die meisten von ihnen schwiegen, und langsam verlor ich die Lust, russische Literatur, Musik und Filme zu konsumieren oder darüber mit den anderen zu sprechen.

Welche Gespräche sind denkbar?

Ich sollte höflich gegenüber dem Gastgeber bleiben, ihn nicht ärgern und seine Gäste nicht mit kontroversen Fragen konfrontieren, das ist klar. Aber worüber sollten wir nun reden, überlege ich panisch, ohne dabei unweigerlich in politische Diskussionen abzurutschen? Ist es überhaupt denkbar, heute ein Gespräch zu führen und nicht gleich in den ersten Minuten den Krieg zu erwähnen?

Obwohl ich überhaupt keinen Hunger verspüre, versuche ich dennoch, mich auf das Essen zu konzentrieren. Ich kaue langsam die Quiche, greife nach Salat und höre zu. Es stellt sich bald heraus, dass alle Anwesenden Musiker sind. Vielleicht können wir uns über Musik unterhalten? Mir fällt sofort die Stiftung eines Kollegen ein, Musicians Defend Ukraine, aber dieses Thema würde die Leute hier bestimmt irritieren.

Während das Gespräch auf Touren in China fokussiert, erfahre ich, dass der Flug von St. Petersburg nach Shanghai nur fünf Stunden dauert und das Essen in Peking viel besser schmeckt. Ich überlege, ob ich meine eigenen Erfahrungen von einer aktuellen Tour mit den Gästen teilen sollte. Vor kurzem bin ich mit der Band zwölf Stunden lang von Charkiw nach Odessa gefahren, da momentan Fliegen in der Ukraine nicht möglich ist. Jedes Konzert dort kann durch einen Luftangriffsalarm unterbrochen werden, in einem solchen Fall sollten sich das Publikum und die Künstler*innen schnellstmöglich in den Schutzbunker begeben.

Mit den Musikern am Tisch teile ich nicht nur meinen Beruf, sondern auch die gemeinsame Muttersprache. In unserer Kindheit haben wir vermutlich die gleichen Bücher gelesen, aber warum kommt es mir so vor, als ob wir in parallelen Welten leben und uns gegenseitig überhaupt nicht verstehen?

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