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Brasiliens ehemalige rechte Regierung ist einer der Hintergründe von „Lessons for Cadavers“.

© Mayra Wallraff

Totentanz in der Potsdamer Fabrik: Michelle Moura erforscht mit den Toten die Lebenden

Die Potsdamer Fabrik zeigt „Lessons for Cadavers“ im Rahmen von Made in Potsdam. Die Choreografin Michelle Moura reflektiert tänzerisch mit den Toten die Lebenden.

Die Fußnägel, eher Krallen, sie sind so lang nach oben gebogen, dass Michelle Mouras, larissa Rêgos und Jorge De Hoyos Bewegungen von ihnen bestimmt werden: Drei Mischwesen, die sich zwischen Leben und Tod mal mit leeren Augen und verlangsamter Sprache, mal seltsam zackig mit gebleckten Zähnen durch Panik und Staunen, Gewalt und Zerbrechlichkeit tanzen.

In ihren minimalistischen Stücken erforscht die brasilianische Tänzerin und Choreografin Michelle Moura psychische und physische Veränderungen, manipuliert Bewegung, Ausdruck und Klang. Mit „Lessons for Cadavers“ ist sie am Freitag beim Festival Made in Potsdam in der Fabrik zu sehen. Vier Wochen lang präsentieren Kreative Arbeiten, die in Potsdam und Brandenburg entstanden sind; in Mouras Fall 2022 während des europäischen Residenzprogramms „Étape Danse“.

Bereits 2019 erarbeitet Moura in Potsdam ein Solo: „Overtongue“, ein Stück über das Vorsprachliche. „Als selbstständige Künstlerin ist die Unterstützung durch solche Orte sehr wichtig“, sagt sie. Ihre Projekte werden bei internationalen Festivals gezeigt: Impulstanz, Panorama, der Biennale Danza in Venedig. Ihr neues Stück heißt vorläufig „Boca Cova“, „Mundgrab“: Es handelt vom „großen Hunger des Kapitalismus, der die Welt aufgefressen hat“.

Diffuse Ängste der Gegenwart

Ein wichtiger Aspekt in der Entwicklung von „Lessons for Cadavers“: die damalige Angstherrschaft der politischen Rechten in Brasilien, die es Moura schon in den Jahren davor erschwerte, als Künstlerin zu arbeiten. 2017 verließ sie ihre Heimat und zog nach Berlin. Ihr Horror in Deutschland? Wie Demokratie und Meinungsfreiheit infrage gestellt werden.

Lektionen für Kadaver. Oder von Kadavern? Durch den Tod reflektiert Moura die Lebenden: Welche Ideen, Lebensweisen und Institutionen sind im Aussterben begriffen, aber widersetzen sich dem Verschwinden? Abgeleitet ist „Kadaver“ vom lateinischen „cadere“, „fallen“. Das Stück zeige Körper, die sich gegen das Fallen wehren, sagt sie. Der Körper erstarrt, die Veränderung wird nicht zugelassen. Oder wiederholt sich unaufhörlich.

An Zombies interessiert Moura deren Körperlichkeit und Künstlichkeit. Sie bündeln diffuse Ängste der Gegenwart: Im nekropolitischen System werden die Menschen selbst zu lebenden Toten. Und auch Kadaver kommen nicht ohne Ambivalenz aus: Taubheit und Horror hier, Hoffnung und Erlösung da. „Veränderungen machen uns Angst. Gleichzeitig die Zuversicht, dass wir mit den neuen Versionen von uns zurechtkommen, uns anpassen und wieder Glück finden können. Es ist eine Herausforderung, sich dem Leben hinzugeben“.

Buch auf, Buch zu: eine zentrale Geste im Stück. Die Bibel, Gesetze. Die Geschichte von Gewinnern, Unterdrückten, Horrorgeschichten, Fabeln. Ein Priester auf der Kanzel, ein Politiker bei einer Kundgebung. Die Erstarrtheit im Tanz bearbeiten. Für Michelle Moura bietet er die Möglichkeit, sich selbst zu transformieren. Das ist so eine Lektion, die sie die Kadaver lehren möchte. Konzeption oder Tanz? „Beides“, sagt sie. „Oft wird die Konzeption im Körperlichen für mich schärfer. Bewegung kann Verstehen fördern, wenn es die Theorie nicht schafft“.

Für Michelle Moura fördert Bewegung Verstehen, wo Theorie es nicht schafft.

© Dorothea Tuch

Woher das Interesse an psychischer und physischer Veränderung? Mit 16, erzählte Moura 2019 in einem Interview, litt sie unter Panikattacken und einer Depression; ein seltsames Gefühl beherrschte ihren Körper und Geist, „als ob ich verrückt werden würde“. Etwas später, nach einer Lebensphase mit Partys und Drogen, fragte sie sich, wie sie dieses Gefühl ohne Drogen auslösen kann. 2009 betrat sie ein Studio – und begann sich zu bewegen.

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