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Kultur: Einfach Spitze

60 Jahre „Textile Vielfalt“ in Potsdam wird mit einer Ausstellung in Berlin-Dahlem gewürdigt

Woll-, Baumwoll-, Leinen- und Seidenfabrikanten hatten während der Epoche des Soldatenkönigs und seines Sohnes Friedrichs in Potsdam eine große Blütezeit. Für die Soldaten, für die Hofgesellschaft oder vornehme Bürger waren die Manufakturarbeiterinnen und -arbeiter, selbst die Jungen und Mädchen im Militärwaisenhaus, ständig in Aktion, um Wünsche zu befriedigen. Eigene Kreativität war dabei aber wohl eher selten gefragt. Doch im häuslichen Umfeld haben sich vor allem Frauen mit verschiedenen Handarbeits-Techniken beschäftigt, um Textilien für den täglichen Gebrauch zu schaffen, auch um sich ihre Lebenswirklichkeit zu verschönern.

Ein Wandbehang mit Applikationsstickerei aus dem Jahre 1993 zeigt Bilder, die sich mit der Textilstadt Potsdam beschäftigt. Mitglieder des damaligen Zirkels für Textilgestaltung Potsdam haben vor 21 Jahren in Gemeinschaftsarbeit den Behang geschaffen. Äußerer Anlass war die 1000-Jahr-Feier der Stadt an der Havel. Soldaten, Militärwaisenhauskinder, Handwerker und Frauen demonstrieren auf dem Bild verschiedene Techniken textiler Herstellung. Auch König Friedrich II. als oberster Auftraggeber hat seinen Platz auf dem Bild gefunden. Damit haben die Zirkelmitglieder an die jahrhundertealte Tradition textiler Gestaltung und Herstellung in Potsdam erinnert. Im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem ist dieses Kunstwerk gegenwärtig zu bewundern. Es gehört zu den Arbeiten, die anlässlich der Ausstellung „Textile Vielfalt. Objekte aus 60 Jahren künstlerischer Textilgestaltung in Potsdam“ mit Wandbehängen, Schmuckobjekten, Collagen und experimentellen Arbeiten präsentiert wird. Kooperationspartner des Museums ist der „Fachverband textil e.V., Wissenschaft - Forschung - Bildung Berlin/Brandenburg“. Ihm hat sich der Potsdamer Textilzirkel in den 90er-Jahren angeschlossen.

Im Jahre 1954 wurde der Textilzirkel gegründet. Die Kreativität von Frauen sollte gefördert und vor allem qualifiziert werden. Ingeborg Bohne-Fiegert, eine der führenden Textilkünstlerinnen der DDR, war die Initiatorin und leitete viele Jahrzehnte die volkskünstlerische Arbeit. „Besonderer Wert“, schrieb die Künstlerin, „wird auf das Wissen um die historische Entwicklung der einzelnen textilen Techniken und damit verbunden auf die Gestaltung sowie auf das geistige Durchdringen einer vorgegebenen Aufgabe, eines Darstellungswunsches gelegt.“

Die Zirkel im Kulturbetrieb der DDR waren wichtiger Bestandteil des „künstlerischen Volksschaffens“. Sie brachten beachtliche künstlerische Werke für den persönlichen und gesellschaftlichen Gebrauch hervor und beförderten Kunsterziehung und Geschmacksbildung. An sich als Freizeitbetätigung gedacht, entwickelte sich in Potsdam hochprofessionelles künstlerisches Schaffen. Eine der längsten Zeitzeugen ist Jutta Lademann. Bereits seit 1954 ist die Potsdamerin dabei. Für ihre Verdienste um die hiesige Textilkunst ist sie mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt worden.

Mit einem breiten Spektrum an Handnähtechniken von Weißstickerei über Buntstickerei, fadengebundene und freie Stickerei, Fadengrafik, Nadelmalerei, Durchbruch- und Netzarbeit, Nadelspitze und Knüpfarbeit bis hin zu Aufnäharbeiten, also Applikationen und Perlenarbeiten, beschäftigen sich die Gestalterinnen. Die Qualität der Arbeiten ist eng mit dem Wandel der Materialbewertung, dem Materialeinsatz und der Themenwahl verknüpft, doch auch mit der Fantasie jeder einzelnen Künstlerin. Später kamen textile Collagen hinzu, bei der man sich gern von Helga Graupner inspirieren ließ. Dabei wird die Wirkung durch die Herstellungstechnik bestimmt. Die Gewebe, deren technische Bindung, verschiedene Farbigkeiten und Materialeigenschaften die Künstlerinnen bewusst für die Bildgestaltung einsetzen, kombinieren sie mit Materialien wie Holz, Leder, Bast, Gräsern oder Perlen. Durch traditionelle Stichformen und zugleich ausgesuchte Arten von Fadenverbindungen entwickeln sie für ihre Arbeiten gestalterische Elemente, die auf den textilen Untergründen feine Binnenstrukturen oder bizarre Flächen entstehen lassen. Auch vergessene Techniken kamen durch Ingeborg Bohne-Fiegert, Helga Graupner und ihre Mitstreiterinnen wieder zur Geltung.

Neben der „Textilstadt Potsdam“ erregen weitere Bildteppiche die Aufmerksamkeit der Besucher im Dahlemer Museum, darunter „Hochzeit in Bluno“, der von sorbischer Tradition erzählt, oder „Entlang der Seidenstraße“, eine Arbeit von Steffi Wendl, die unvollendet bleiben musste. Die Figuren fand man nach 1982 in einem Nachlass. Erst 2007 konnte der Behang von Jutta Lademann fertiggestellt werden. Die ausgestellten Kleider, Schirme, Schuhe, Hüte berichten darüber, dass sich die Zirkel-Mitglieder auch immer wieder der Mode zuwandten. Frei im Raum hängt ein textiler Würfel (Stickerei, Applikation, Collage), eine der jüngsten Arbeiten, die in der Ausstellung zu sehen ist. Marianne Herzog gestaltete jede Würfelseite anders. Die sechs Jahrzehnte des Zirkels werden mit einem Symbol dargestellt. Die Künstlerin nennt sie: Ihre Wege gehen, Auftreten, Netzwerk, Hut ab, Kontraste und Einfach Spitze.

Textile Vielfalt. Objekte aus 60 Jahren künstlerischer Textilgestaltung in Potsdam, Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen Berlin-Dahlem, Arnimallee 25, bis 1. März 2015

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