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Kultur: Ein Handelsreisender

Paul Oestreicher hielt einen bewegenden Vortrag in der neuen Versöhnungskapelle

Der 9. November – ein deutscher Schicksalstag. Dieses Thema wählte Paul Oestreicher, früherer Domkapitular der Versöhnungskathedrale von Coventry, für seinen Vortrag anlässlich der Weihe der Versöhnungskapelle am ehemaligen Standort der Garnisonkirche. Paul Oestreicher gehört zu den großen Persönlickeiten unserer Zeit, die sich seit Jahrzehnten für die Versöhnung zwischen Staaten, Konfessionen, von Menschen überhaupt, mit Wort und Tat einsetzen. Dem geplanten Wiederaufbau der zerstörten Garnisonkirche in Potsdam bekundet er seit Jahren seine Aufmerksamkeit. Natürlich gilt sein Interesse der Versöhnungsarbeit, die in dem Gotteshaus ein über die Stadt hinaus wirkendes Zentrum erhalten soll. Doch bereits jetzt hat die Arbeit dafür an diesem Ort begonnen.

Paul Oestreicher hat in seinem bewegenden Vortrag das Datum des 9. November mit ganz persönlichen Reflektionen bedacht. „Vier Mal wurde an diesem Tag eine deutsche Welt auf ganz verschiedene Art verwandelt. Das 20. Jahrhundert war für deutsche Menschen eine gestörte, um nicht zu sagen verstörte Zeit, die trotz der Zusammenhänge eine Zeit ohne Kontinuität war. Es wundert mich nicht, dass junge Menschen, die Erben dieser Vergangenheit, oft gar keine innere Beziehung zu dem Begriff Deutschland haben und haben wollen: zwei Generationen ohne Vaterland, doch nicht ohne Heimat.“ Genügt ein euphorischer Fussballmonat der geschwenkten Fahnen, eine Wende herbeizuführen, fragt sich Oestreicher.

Er berichtete dann , dass am 9. November 1918 sein jüdischer Vater, Leutnant im 9. Bayrischen Artillerieregiment, der deutschnational bis auf die Knochen war, sich bitter enttäuscht zeigte. „Das kaiserliche Deutschland hatte ausgespielt. Adé Fürst Bismarcks preußisches Reich.“ Das Schlachten an der Somme, das Massensterben in den Feldern von Flandern kehrte für seinen Vater in Albträumen immer wieder zurück. Auch der Feldwebel aus Braunau, Adolf Hitler, war am Ende des verlorenen ersten Weltkrieges ein Enttäuschter. „Aus seiner Wut wurde ein Sendungsbewusstsein ohnegleichen. In sich selbst sah er die neue Sittlichkeit, den Macher, den Führer. Am 9.November 1923 war der Vortrupp Nazideutschlands dabei, die Straßen zu erobern. Der Marsch auf Münchens Feldherrenhalle sollte der erste Schritt in Richtung Reichskanzlei im noch weit entfernten preußischen Berlin sein.“ Paul Oestreicher sagte, dass anständige Menschen Anfang der dreißiger Jahre leise Bedenken gegen Hitler äußerten. Man wählt ihn ja nicht auf ewig, so die Meinung vieler Deutscher. „Überhaupt, wir haben einen gestandenen Generalfeldmarschall Hindenburg als Reichspräsidenten, so die verbreitete Meinung. Dieser hat mit der Weisheit des Alters bestimmt alles im Griff. Am Tag von Potsdam hat der alte Herr dann bewiesen, dass es nicht so war. In der Garnisonkirche – schwierigen Gedenkens – hat das alte Deutschland kapituliert.“ Der neue Führer brachte dann ein neues erfüllendes Lebensgefühl. „Meine Mutter jedoch hatte ,Rassenschande’ begangen, nämlich einen Juden geheiratet.“ Oestreicher berichtete, dass es in seiner Familie einen überzeugten Nazi gab, der sogar Gauleiter der Deutschen in Spanien wurde. „Zu 25 jähriger Haft haben ihn dann die Sowjets verurteilt. Nach zehn Jahren begnadigt, war er so überzeugt von seiner Sache wie zuvor: Treue seinem Führer, auch über dessen Tod hinaus.“

Am 9. November 1938 gab die NSDAP einen weiteren Beweis dafür, dass Wort und Tat zusammen gehören. Die Stunde war gekommen, um den schädlichen Juden zu zeigen, wie die arische Rasse über sie denkt. „Man entfesselte den spontanen Volkszorn, denn das ganze Vaterland sollte judenfrei sein.“ Die Synagogen brannten überall im Reich. Die Familie Oestreicher floh nach Neuseeland.

Im Jahre 1964 nahm der Theologe Paul Oestreicher dann den Auftrag an, ein Osteuropareferat des britischen Kirchenrates einzurichten. „Da wusste ich, wer mein Feind war: der Kalte Krieg, der zwischen Ost und West entbrannte.“ Die Nachfolge Christi verpflichtete ihn, zwischen den Fronten zu stehen und dem Kalten „Krieg“ den Krieg zu erklären. Seine „Gemeinde“ reichte wohl von Ostberlin bis nach Wladiwostok und zurück nach London bis Washington. „Ich war in diesem Kontext britischer Bürger, britischer Christ, aber kein Parteigänger des Westens. Ich war aber auch kein Verfechter des realen Sozialismus. Ich war Handelsreisender in Sachen Frieden und Menschenrechte.“

Er berichtete, dass er desöfteren auch die DDR besuchte, lobte etwas einseitig den Staatssekretär Seigewasser. Ohne seine Hilfe hätte er, wie er bekannte, kaum Ostberlin besuchen können. Oestreicher war auch Mitglied der Christlichen Friedenskonferenz Prag, einer Vereinigung, die sich bekanntlich konform gegenüber den Ostblockstaaten verhielt. Oestreicher wurde jedoch aus dem Leitungskreis der Konferenz ausgeschlossen, weil er sich kritisch gegenüber Menschenrechtsverletzungen äußerte.

Und dann die Bemerkung, die an diesem Vortragsabend umstritten war: Ohne die Mauer und den zu befürchtenden Zusammenbruch der DDR wäre der Kalte Krieg vielleicht zu einem heißen geworden. „Es war mein Privileg im Rahmen einer geheimen Menschenrechtsmission, Walter Ulbricht die Schüsse an der Mauer vorzuwerfen. Ulbricht sagte, diese Schüsse im Ost-West-Kontext seien Schüsse auf ihn selbst. Er liefere mit jedem notwendigen Schuss – aus seiner Perspektive – dem Klassenfeind die bestmögliche Propaganda. Der Täter sah sich als Opfer.“ Danach nahmen die Reflektionen ein rasches Ende: „Mein Leben der kritischen Solidarität gegenüber Ost und West ging mit dem Mauerfall am 9.November 1989 zu Ende.“ Oestreicher pries Gorbatschow, der dazu die Weichen stellte. Aber ein Wort zum 9. November 2006, zur Weihe der Versöhnungskapelle, hätte den Rahmen des Vortrags sicherlich nicht gesprengt.

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