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Süße Souvenirs. Die Zuckerstückchen-Sammlung von Karin Rädel umfasst rund 300 000 Objekte.

© Ottmar Winter

Die Liebe zum Würfelzucker: Sammler-Glück an der Villa Schöningen

Papstbilder, Alltagsdinge: Potsdams Villa Schöningen nimmt das Phänomen des Sammelns in den Blick - und will damit eine neue Ära einläuten.

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Von den unzähligen Versuchen, ein Leben greifbar zu machen, ist in der Potsdamer Villa Schöningen gerade der wahrscheinlich süßeste zu finden. Aufgetürmt in einer Vitrine liegen da, oben im ersten Stock: tausend Stücke Würfelzucker. Ein bunter Berg aus Bildern, Orten, Zeiten. Exemplare des VEB Zuckerraffinerie Vorwärts aus Halle an der Saale neben Stücken der Raffinerie Say aus Paris, unweit davon die Zuckermühle Rupperswil, das Hotel Penta in Berlin-Köpenick oder das legendäre Café Kranzler.

Zusammengetragen hat all das, seit 1963, Karin Rädel. Rädel ist Vorsitzende des deutschen Zuckersammler-Klubs. Als solche hat sie, anders als die Vitrine zunächst vermuten lässt, auch sortiert: alphabetisch, nach Herkunftsländern. Hat die Souvenirs an Lebensstationen und Stippvisiten in eine übergeordnete Ordnung gebracht, dem Chaos des eigenen Lebens System gegeben. Insgesamt umfasst ihre Sammlung rund 300 000 Objekte.

Die Krankheit ohne Sehnsucht nach Heilung

„Sammeln ist eine Krankheit ohne Aussicht auf Heilung“, soll der Fotograf Lamberto Vitali gesagt haben. Die Ausstellung in der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke spürt dieser Krankheit jetzt nach. Der Mann, dem das Haus heute gehört, ist selbst infiziert: Mathias Döpfner, Multimillionär und Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Konzerns, sammelt auch. Akte vor allem, aber offenbar nicht nur. In der aktuellen Schau sind neun Biedermeier-Stücke aus der Döpfner-Sammlung zu sehen, Landschaften von Carl Spitzweg, versicherungstechnisch die Schwergewichte der Schau.

Sonia González, Leiterin der Villa Schöningen.

© Ottmar Winter

2019 hatte Mathias Döpfner erstmals seine private Sammlung hier gezeigt, unter dem Titel „Nude“. Lauter weibliche Akte. „Das nackte Grauen“ schimpfte eine Kunstzeitschrift damals, der Vorwurf der Pornografie stand im Raum. Damals kuratierte Döpfner selbst. Im Herbst wird sich eine weitere Schau in der Villa Schöningen mit der Sammlung Döpfner befassen, kuratiert von der Schöningen-Direktorin Sonia González. Überhaupt: Künftig soll die Sammlung hier eine übergeordnete Rolle spielen, wie González sagt.

In der Schau zu Trulee Hall waren einige der klassischen Werke aus dem Döpfner-Fundus bereits als Antipoden dabei, darunter Albrecht Dürers Holzschnitt „Der Sündenfall“. In Zukunft will die Villa Schöningen das ausbauen und nach dem Prinzip Barberini vorgehen: Werke aus der Sammlung Döpfner sollen den Ausgangspunkt für künstlerische Auseinandersetzungen bilden. Wie umfangreich die Sammlung des Hausherren genau ist, vermag Gonzalez selbst nicht genau zu sagen, sie spricht von 500 oder 600 Werken, „vom Kupferstich bis 2022 ist alles dabei“.

Eine neue Ära für das Kunsthaus

Die 2009 als Kunsthaus wiedereröffnete Villa Schöningen steht also vor einer inhaltlichen Zäsur. Die jetzige Leiterin Sonia González kam 2020 ans Haus, kurz vor Beginn der Pandemie. Nach „zwei Jahren des Transits“ will sie, seit Mitte 2021 auch Geschäftsführerin, die Villa in eine neue Ära begleiten. Insofern ist die aktuelle Ausstellung auch programmatisch zu verstehen, als Auseinandersetzung mit dem Vorgang des Sammelns an sich. Als Selbstbefragung und als Aufforderung: Menschen mit eigenen, ungewöhnlichen Sammlungen mögen sich bitte melden. „Die Ausstellung ist selbst eine Art Sammlung“, sagt González. Selbstverständlich unvollständig, heißt das. Und dass sie wachsen will.

Sammlerobjekte. Auch eine meterlange VHS-Kassetten-Sammlung wird in der Villa Schöningen gezeigt.

© Ottmar Winter

Bewusst stellt González verschiedenste Formen des Sammlergeistes nebeneinander. Alltagstauglichkeit ist ihr wichtig. „Jeder und jede hat im Leben schon Dinge gesammelt“, sagt sie. „Und wenn es als Kind Stöcke waren.“ Bei ihr selbst waren es eine Zeitlang benutzte Pflaster, die sie auf der Straße fand. Sie war fasziniert von den Spuren, die andere hinterließen.

Die schattigen Wälder und lauschigen Grotten eines Spitzweg in schwülstigen Rahmen zeigt sie deshalb ebenso wie die umfangreiche Sound Collection von Guy Schraenen mit dekorativen Plattencovern von Gerhard Richter bis Keith Haring, Kühlschranktüren aus Neukölln oder eine 18 Meter lange Reihe mit Videokassetten: 666 durchnummerierte Raubkopien verschiedenster Genres, aus der Zeit zwischen 1983 und 2005. Der Titel („The past is now useful“) ist ironischer Kommentar: Viele Filme dürften aufgrund der empfindlichen Magnetbänder heute schon nicht mehr zu sehen seien, so González. Was bleibt, sind Hüllen. Die Illusion von Ordnung und Vollständigkeit.

Das Chaos der Welt erfassen

Die dekorativen Stücke eines Millionärs, für den Sammeln auch eine Form der Geldanlage ist, stehen neben Kollektionen, die vom Versuch zeugen, dem eigenen Leben Struktur zu geben. Das Chaos der Welt zu erfassen, indem man ein Teilgebiet so akribisch wie möglich abgrast. Die Schauspielerin und Autorin Lea Draeger bannt die eigene, vom Katholizismus geprägte Biografie in eine Sammlung von Papstdarstellungen, briefmarkengroß. Über 6000 dieser „Ökonomischen Päpste und Päpstinnen“ gibt es mittlerweile, eine kleine Auswahl hängt in Potsdam.

Anna Sullivan zeigt ihre Privatsammlung von Vermisstenanzeigen von Haustieren - Schildkröten, Hunde und Katzen, Katzen, Katzen. Der Titel der Sammlung könnte als Überschrift über dem Akt des Sammelns an sich stehen: „Lost Love“. Was wäre der Sammlerimpuls anderes als die immerwährende, vergebliche Liebe für das noch fehlende Objekt?

Knochen aus der Themse. Marc Einsiedel und Felix Jung machen Kunst daraus.

© Ottmar Winter

Und steckt nicht in der Suche nach Vervollständigung immer auch eine Portion Größenwahn? Ob es um Briefmarken geht (um die die Schau einen Bogen macht), Pflanzen (ein Herbarium ist mit dabei), VHS-Kassetten, Klänge oder Kunst. Das Schöne an der Schau ist, dass hier Dinge gezeigt werden, die einem beim Stichwort „Sammeln“ nicht zuerst in den Sinn kommen. Wer weiß schon, dass im Cambridge der 1930er Jahre wagemutige Studenten nachts die historischen Fassaden erklommen? Die Foto-Sammlung „The Night Climbers of Cambridge“ bezeugt es.

Auch die visuell eindrücklichste Ansammlung der Schau stammt aus England. Fasziniert von der Tatsache, dass die Themse lange Jahre von den am Ufer liegenden Schlächtereien als Müllhalde genutzt wurde, hat das Hamburger Künstlerduo Marc Einsiedel & Felix Jung vor kurzem in dem Fluss einige Tage lang nach Knochen gefischt. Das erstaunliche Ergebnis bedeckt eine Fläche von drei mal zwölf Metern, ausgebreitet wie ein riesiger Teppich auf dem schicken Parkettboden.

Menschenknochen sollen auch dabei sein, sagt Sonia González, aber Einsiedel und Jung geht es um etwas Anderes. Angeregt vom Prinzip des edlen Knochenporzellans, dem Knochenasche beigemengt wird, um die Qualität zu maximieren, haben die beiden aus Teilen der Themse-Funde eigene Porzellanobjekte hergestellt. Trinkbecher, Pommes-Tüte, Burger-Box. Aus den Abfällen der letzten Jahrhunderte haben sie Abfälle der heutigen Zeit geformt, museumsreif.

„Sammeln“, bis 28.8. in der Potsdamer Villa Schöningen

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