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Erfahrung und Neubeginn. Bettina Jantzen ist die neue Chefdramaturgin, Christopher Hanf arbeitete schon seit 2015 am HOT. 

© Andreas Klaer

Neustart am Hans Otto Theater: „Der Beschleunigungsfalle entkommen“

Theater haben sich zu Vorzeigeobjekten des Neoliberalismus gemacht, sagen die Dramaturgen Bettina Jantzen und Christopher Hanf. Sie wollen das anders machen. Ein Gespräch über den Neustart am Potsdamer Hans Otto Theater und Theater als Korrektiv der Gesellschaft.

Frau Jantzen, Herr Hanf, die neue Spielzeit des Hans Otto Theaters steht unter dem Motto „Haltung“. Wofür steht dieses Wort für Sie persönlich?
 

JANTZEN: Ich verbinde mit dem Begriff Haltung eine innere Orientierung, eine Koordinate, die ich in mir trage. Werte, die mir im ganz normalen Alltag Halt geben. Ich würde das zunächst auf eine ganz konkrete zwischenmenschliche Ebene beziehen wollen. Haltung hat mit Respekt zu tun, ganz egal welchen Alters, Geschlechts, welcher Herkunft das Gegenüber ist. Sie hat mit Toleranz zu tun, auch mit Offenheit und Wachsein. Empathie. Haltung ist ein Kompass, der mir hilft, mit bestimmten Situationen umzugehen.

HANF: Für mich hat Haltung besonders mit Mut zu tun. Das ist eine Eigenschaft, die der Welt im Moment verloren zu gehen scheint. Alle reden immer nur von Angst, davon, Ängste ernst zu nehmen. Ich würde das Spiel gerne mal umdrehen und fragen: Was bedeutet es, sich mutig zu seiner Position zu bekennen? Ich sehe das auch so, dass wir in einer Welt leben, wo die Gewissheiten schwinden, und die Leute beginnen, sich zu klammern. So entstehen dann starre Haltungen. Das ist gefährlich. Aber es ist erfrischend, wenn jemand den Mut zeigt, gegen den Strom zu schwimmen, dagegen eine Position zu behaupten. Das heißt auch, mit offenem Visier den anderen gegenüber zu treten. Haltung ist auch immer eine Aufforderung zum Dialog. Gerade jetzt im Sommer hat sich gezeigt, dass man darum ringen muss.

Was meinen Sie damit konkret?

HANF: Ich meine diese Leute, die da aufploppen und meinen, populistisch den Kurs vorgeben zu müssen, indem sie sagen: Wie rotten uns hier unter einer bestimmten Flagge zusammen und wissen, wo’s langgeht. Die Kunst hingegen handelt immer davon, wie vielgestaltig die Welt ist.

Wie haben Sie als Dramaturgen, als Formate- und Textefinder, versucht, das eben Beschriebene für die neue Spielzeit in den Theaterraum zu übersetzen?

JANTZEN: Ich würde da zwei verschiedene Elemente beschreiben. Einerseits die Stücke und Formate, die wir uns konkret vorgenommen haben. In dieser Situation des Neuanfangs, eine Art Stunde Null, hat Haltung für mich auch etwas mit der Art der Zusammenarbeit zu tun. Wie gehen wir miteinander um im Theateralltag? Das ist ein wichtiger Teil davon. Nach außen tritt natürlich erst einmal die andere Komponente: die Stücke, die wir uns ausgesucht haben. Ich selbst beschäftige mich gerade mit dem Stück von Thomas Köck „paradies spielen“. Ein sehr ungewöhnlicher Theatertext, indem schon der Autor eine sehr kritische Haltung zu unserer globalisierten Welt in Sprache geformt hat. Dieses Eindringen in dieses herausfordernde, provokante Material ist für alle ein spannender Weg, der einen immer wieder zu sich selbst zurückführt. Ein ganz starker Text, der in seiner Haltung auch schon ein Angebot macht.

Das Theater nimmt mit solch einem Text bereits eine bestimmte Haltung ein, könnte man sagen. Wird das Hans Otto Theater versuchen, auch mal schwer verdaulich zu sein?

JANTZEN: Das würde ich jetzt nicht so generalisieren. Wir wollen uns das an bestimmten Punkten unbedingt leisten. Ich würde sagen: Wir wollen uns alle herausfordern.

Keine Angst vor Ablehnung?

JANTZEN: Ablehnung kann sein. Aber unsere Aufgabe als Dramaturgen ist es ja auch, ein Stück an unsere Zuschauer zu vermitteln und Wege zu finden, um dennoch eine Offenheit, eine Neugierde für das Material zu schaffen? Sicher ist der Text von Thomas Köck einer der herausforderndsten Texte, aber das Spektrum unseres Spielplans ist ja sehr breit. Thomas Köck ist zudem auch als Klammer mit dem zweiten Eröffnungsstück gedacht, Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Das ist ein Stoff, der zurückschaut in die DDR-Vergangenheit. Das war eine bewusste Entscheidung: Zum einen den Blick zurück in die Vergangenheit von einem Teil der Menschen, die hier leben – und wir wollen ganz direkt, auch mit einer gewissen Radikalität in unsere Gegenwart schauen. Die Spannbreite war uns sehr wichtig.

Frau Jantzen sprach von einer Art Stunde Null. Sie, Herr Hanf, waren davor schon im Ensemble des Hans Otto Theaters, kennen das Haus seit 2015. Was können Sie in dieser Stunde Null einbringen?

HANF: Hier mitten auf dem Tisch steht der „Teamgeist“, eine kleine Skulptur, die hat Bettina Jantzen aus Cottbus mitgebracht. Das hat mir sofort gefallen. Als wir uns im April getroffen haben, um darüber zu sprechen, ob das etwas werden könnte mit einer Zusammenarbeit, haben wir uns ganz offen über unsere Auffassungen von Theater ausgetauscht. Dass die übereinstimmen, ist ungemein wichtig, dafür verbringt man hier am Theater einfach zu viel Lebenszeit. Was mir auch gefallen hat: Bettina Jahnke und das ganze Dramaturgenteam haben immer wieder gesagt, dass wir auch den Konflikt suchen wollen. Die Gefahr ist ja immer, dass Leute, die schon lange da sind, irgendwann sagen: Das klappt sowieso nicht. Der Charme eines Neuanfangs ist aber gerade, zu sagen: Wir probieren einfach mal.

Der „Refugees Club“ war ein gut funktionierendes Format, das viele Leute ans Haus geholt hat, die sonst nicht gekommen wären. Sie als der Macher sind noch am Haus. Trotzdem gibt es ihn nun nicht mehr. Warum?

HANF: Es ist natürlich etwas, das mir über die Jahre sehr ans Herz gewachsen ist, wo ich viele Freunde gefunden, viele tolle Theatermomente erlebt habe. Aber ich merke auch, dass das Format eigentlich nicht mehr passt. Viele der Geflüchteten sind inzwischen einen Schritt weiter, fühlen sich nicht mehr wie Geflüchtete, sondern sind angekommen. Die meisten sind wahnsinnig eingespannt in ihre Leben. Wir wollten uns die Zeit nehmen, in Ruhe Formate zu entwickeln, die eine angemessene Fortsetzung sein können. Ich glaube, dass es noch stärker in Richtung Dialog gehen sollte. Zuvor war die Kommunikation nicht so einfach, jetzt sprechen viele Geflüchtete gut Deutsch. Jetzt sollte es noch stärker darum gehen, sich gegenseitig die eigenen Geschichten zu erzählen.

Und das wird die angekündigte Bürgerbühne?

HANF: Ja, das wird im Rahmen der Bürgerbühne passieren. Aber wir wollen hier nichts überstürzen, wollen uns die genauen Formate gut überlegen.

Dass Sie nichts überstürzen wollten, sieht man ja auch daran, dass die Bürgerbühne erst im Januar beginnen soll.

JANTZEN: Wir sind jetzt seit zwei Wochen in unseren Büros, haben gerade die Möbel gerückt und uns eingerichtet. Wir brauchen einfach ein bisschen Zeit, um uns zu sortieren. Und haben ja auch bis Januar viel Neues vor. Die neue Reihe „Scobel fragt“, oder auch „Potsdam liest ein Buch“. Unterschiedlichste Menschen der Stadt sollen an unterschiedlichen Orten hier zusammenkommen. Wir betreuen alle vier bis fünf Produktionen, daher haben wir bewusst entschieden: erst einmal die anderen Dinge, dann die Bürgerbühne.

„Potsdam liest ein Buch“ gab es hier bereits, wenn auch nicht am Theater. Auch das angekündigte „Früh-Stück“ gab es davor schon, unter dem Namen „Matinee“. Wie viel ist denn nun wirklich neu?

JANTZEN: Die Reihe „Scobel fragt“ ist ein Format, die es bislang noch nicht gab.

Was verbirgt sich dahinter?

HANF: Wir wollen die zentralen gesellschaftlichen Diskurse zum Thema machen und uns dabei am Spielplan orientieren. Es ist gewissermaßen die Zuspitzung, die Verschärfung der „Stadt der Zukunft“. Was Scobel und mir wichtig war, ist, dass es keine grelle Veranstaltung werden soll, nicht so ein Geschrei der immer gleichen Leute, das wir in den Talkshows erleben. Es geht wirklich um ein gemeinsames Nachdenken. Zum Thema Haltung ist mir die ganze Zeit im Kopf: Die Theater sind durchaus auch aufgefordert, eine eigene politische Haltung in den Raum zu stellen, das hat man im Sommer in München bei Matthias Lilienthal gesehen …

… als der dortige Intendant Lilienthal zu einer Demo gegen die Asylpolitik der CSU aufrief.

HANF: Ja. Wir sind gerade an einem kritischen gesellschaftlichen Punkt. Die Theater sind gefragt, Räume der Begegnung zu schaffen, um einen Kit wiederherzustellen. Dabei geht es um das Einander-Zuhören, das im Theater ja ohnehin im Mittelpunkt steht. Dazu kann die Reihe beitragen.

JANTZEN: Es gibt auch andere Neuerungen. Etwa die Schau-Spiel-Fenster, die es heute erstmals geben wird, und mit denen wir in die Stadt hineingehen wollen. Das kann durchaus eine Kontinuität bekommen, zu Beginn jeder Spielzeit. Neu ist auch der Boxenstopp, eine Art Open Stage ...

... auch ein Format, dass es bereits gab, unter dem Namen Nachtboulevard.

HANF: Die Theater haben sich in den letzten Jahren zu einem Vorzeigeobjekt des Neoliberalismus gemacht, indem wir uns ständig so einer Art Überbietungswettstreit unterworfen haben. Einerseits haben wir den Neoliberalismus offiziell kritisiert, andererseits wird immer wieder von Intendantinnen und Intendanten gesagt: Wir haben die Produktion noch weiter gesteigert, haben 40 oder 50 Sonderveranstaltungen gestemmt, immer schneller, immer höher, immer weiter. Und wenn Theater eigentlich ein Korrektiv zur Gesellschaft sein will, dann muss es dieser Beschleunigungsfalle entkommen und ein Ort der Ruhe, des Besinnens und Positionsbestimmung sein. Daher finde ich es sehr gut, dass wir uns als Theater die Zeit nehmen, die Dinge in Ruhe vorzubereiten. Und im Übrigen ergibt sich allein im Zusammentreffen des neuen Ensembles, das gerade mit viel Offenheit aufeinandertrifft, ganz viel Neues, eine große Aufbruchsenergie.

Eine Schauspielerin, Katrin Hauptmann, hat das Ensemble allerdings schon wieder verlassen, bevor es richtig losging – auf eigenen Wunsch.

HANF: Und Bettina Jahnke hat dem Wunsch sofort entsprochen, was sie gar nicht hätte tun müssen. Über die Gründe hat Katrin Hauptmann sich ja selbst öffentlich geäußert. Wir waren darüber sehr erschrocken, auch geschockt. Die Motive sind uns unerklärlich. Ich war bei den ersten Proben des neuen Stücks in der neuen Spielzeit dabei und kann sagen: Es waren aus meiner Sicht sehr produktive Proben. Aber letztlich ist es sicher besser für alle Seiten, wenn jemand, der sich nicht wohl im Ensemble fühlt, geht.

Nochmal zurück zur Beschleunigungsfalle: Ist die ein Grund, warum Sie sich nicht auf Uraufführungen stürzen? Es gibt in nur eine,"Gehen oder Der zweite April" von Jean-Michel Räber.

HANF: Bei Uraufführungen ist im Theaterbetrieb was aus dem Ruder gelaufen. Es ist ein unverantwortlicher Hype entstanden. Die Stücke werden serienweise rausgeschossen und verschwinden wieder in der Schublade. Für die Potsdamer Menschen ist es doch irrelevant, ob ein Stück schon mal in Mannheim gezeigt wurde. Es wäre im Gegenteil doch völlig fahrlässig, den Potsdamer eine Stückbegegnung mit so einer Begründung zu verweigern. Dieser Logik wollen wir uns nicht unterwerfen, sondern lieber nach den Texten suchen, an die wir glauben.

Potsdam muss sich noch gedulden, bis es auf der Bühne Thema wird?

HANF: In allen ausgesuchten Texten können sich die Potsdamer spiegeln. Zum Beispiel in „Kabale und Liebe“ kann man sehen, wie verschiedene Schichten aufeinandertreffen. Es stimmt, dass wir nichts zur Fachhochschule oder Garnisonkirche gemacht haben – sollten wir vielleicht mal. Aber das braucht Zeit.

„Die Quote muss stimmen", sagt die neue Intendantin Bettina Jahnke. Davon kann bei den Autoren keine Rede sein: Von 23 sind drei Frauen. Gibt es weniger spielenswerte Texte von Frauen oder war die Quote hier nicht Priorität?

JANTZEN: Die Quote war bei den Texten vielleicht tatsächlich nicht oberste Priorität. Wenn man in den Kanon der Klassiker zurückschaut, sind dort erst einmal weniger Dramatikerinnen zu finden. Aber mehr Texte von Frauen zu zeigen, ist eine Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben.

Was wollen Sie tun, um Menschen, die nicht ohnehin schon an den Diskursen im Theater interessiert sind, ins Boot zu holen?

JANTZEN: Da wird unsere Dramaturgin Natalie Driemeyer eine wichtige Rolle spielen. Sie entwickelt mit der Regisseurin Nina de la Parra im nächsten Jahr bei „Bartleby“ ein Recherchestück, das hier im Theater aufgeführt wird, sich im Vorfeld aber in andere Stadtteile begeben soll, zu Leuten, die sich sonst nicht mit dem Theater identifizieren. Das wird eine Recherche rund um das Thema Verweigerungshaltungen.

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Bettina Jantzen, 1969 geboren, wuchs in Dresden und Cottbus auf. Sie studierte Theater- und Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Sie leitete theaterpädagogische Projekte, spielte am Poetischen Theater sowie in der INSELbühne. 1995 begann ihr Engagement als Dramaturgin am Staatstheater Cottbus unter der Intendanz von Christoph Schroth. 2007 übernahm sie Lehraufträge im Studiengang „Soziale Arbeit“ an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sie ist die jetzige Chefdramaturgin des Hans Otto Theaters.

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Christopher Hanf, geboren 1966, wuchs in Hankensbüttel/Niedersachsen auf, studierte Germanistik und Evangelische Theologie. Seine erste Stelle als Dramaturg trat er 1999 am Schauspiel Frankfurt an. 2001 wechselte er an die Freien Kammerspiele Magdeburg. 2007 war er Autor und Dramaturg am Berliner HAU, es folgten Festengagements am Schauspielhaus Bochum, am Theater Bonn sowie am Hessischen Landestheater Marburg. Seit 2015 ist er am Hans Otto Theater als Dramaturg engagiert. 

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Mit zwei Premieren wird am 22. September die neue Spielzeit eröffnet. Zu sehen sind um 18 Uhr im Großen Haus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge“ in der Regie der neuen Intendantin Bettina Jahnke sowie um 21 Uhr in der Reithalle „paradies spielen“ von Thomas Köck in der Regie von Moritz Peters. 23 Premieren wird es in der neuen Saison geben, 12 davon basieren auf zeitgenössischen Vorlagen. Die 1963 in Wismar geborene Bettina Jahnke, die zuvor zehn Jahre das Rheinische Landestheater Neuss leitete, möchte neue Formate wie die Bürgerbühne entwickeln und die Frauenquote erhöhen. Sie folgt der Intendanz von Tobias Wellemeyer, der neun Jahre das Potsdamer Theater führte.

Lena Schneider, Heidi Jäger

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