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Lindenstraße 54: Geschichtsunterricht ohne Bücher

"Ich dachte der Tod stünde mir bevor", erzählt Eike Christine Radewahn. Warum ihre Geschichte so wichtig ist.

Von Helena Davenport

Potsdam - Vor Eike Christine Radewahn saßen am gestrigen Dienstag im ersten Stockwerk der Gedenkstätte Lindenstraße 54 dreißig Zehntklässler. „Habt ihr gesehen, wie die Duschen hier aussehen?“, fragte die Zeitzeugin ihre jungen Zuhörer. Ein zustimmendes Murmeln ging durch die drei Reihen. „Dort musste ich splitterfasernackt warten – ich dachte, der Tod stünde mir bevor“, erzählte Radewahn von ihren ersten Stunden im Stasi-Gefängnis. Dieses befand sich von 1952 bis 1989 in den Räumlichkeiten, die heute Gedenkstätte sind. Dann habe eine ausgiebige Leibesvisitation gefolgt, jede Körperöffnung sei untersucht worden.

Die Schüler hörten gebannt zu, einige schauten erschrocken. 15 Mädchen und 15 Jungen von der Ludwig Witthöft Oberschule in Wildau (Dahme-Spreewald) waren nach Potsdam gekommen, um Geschichte live zu erleben. Die Projektwerkstatt „Lindenstraße 54“ macht genau das möglich. Seit dem gestrigen Dienstag kann die Einrichtung auf 15 Jahre Bildungsarbeit zurückblicken.

Schüler müssen selbst moderieren

Uta Gerlant, seit Sommer 2016 Leiterin der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, sagte während ihrer Rede am Dienstagvormittag: „Ich habe erst mit meiner Aufgabe verstanden, wie eng das Land Brandenburg mit dem Schicksal der Menschen, die hier gefangen waren, verwoben ist.“ Die Geschichten, die in der Lindenstraße 54 vermittelt werden, seien zwar herausfordernd, aber gleichzeitig auch unabdingbar für mehr Verständnis untereinander. Als Besonderheit hob sie hervor, dass Jugendliche im Rahmen der Projektwerkstatt selbst die Verantwortung für ihre Zusammenkunft mit den dunklen Seiten der Geschichte ihres Landes übernehmen können. So müssen Schüler ein Zeitzeugeninterview selbst moderieren.

Es gab während der Jubiläumsveranstaltung, bei der Bürgermeister und Kämmerer Burkhard Exner ebenso anwesend war wie Volker-Gerd Westphal in Vertretung für Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (alle SPD), noch einen weiteren Höhepunkt: Die 50.000. Schülerin, die den Gedenkort besucht hat. „Ich freue mich riesig, dass wir schon so viele Schüler betreut haben“, sagte Catrin Eich, Leiterin der Projektwerkstatt.

Blumen für die 50.000. Schülerin

Die 50.000. Schülerin ist Zoe Woldt aus Königs Wusterhausen. Zoes Lehrerin, Angelika Herbst-Wollnik, freute sich. Es sei ein toller Zufall, dass das Mädchen der Jubiläumsgast ist. Zoe ist Einserkandidatin im Fach Geschichte. „Ich finde es sehr interessant, hier Einblick zu erhalten“, sagte die 14-Jährige mit Blumenstrauß im Arm.

Das barocke Stadtpalais mit dahinter gelegener Stallanlage, ursprünglich in den 1730ern von „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. errichtet, hat eine sehr bewegte Geschichte: Zuerst Adresse des ersten Stadtparlaments, im Nationalsozialismus dann „Erbgesundheitsgericht“, danach Gefängnis für politische Häftlinge. Bis 1952 Haftanstalt des sowjetischen Geheimdienstes und dann Untersuchungsabteilung, sprich Gefängnis, der Staatssicherheit der DDR. Deren Dienststellen in Potsdam wurden vor genau 28 Jahren und damit rund vier Wochen nach dem Fall der Mauer von Mitgliedern des Neuen Forums gestürmt. An die politische Verfolgung in beiden deutschen Diktaturen erinnert seit 1995 das Potsdamer Backsteinhaus in der Lindenstraße 54.

Mit 20 ins Gefängnis

Die Tiermedizinerin Eike Christine Radewahn kam mit gerade einmal 20 Jahren in das Stasi-Gefängnis. Sie sei unangepasst gewesen, habe nicht in die FDJ gewollt und schon mit zwölf Jahren ihren ersten Fluchtversuch unternommen. Als sie mit ihrer großen Liebe 1984 in Rumänien die Donau durchquerte, um auf der gegenüberliegenden Seite das damalige Jugoslawien zu erreichen, wurde sie erwischt. Die Folge: eine dreijährige Haftstrafe. Wie lang die Vernehmungen denn gewesen seien, wollte gestern ein Schüler wissen. Das sei ganz unterschiedlich gewesen, sagte Radewahn. Als sie weitererzählte, dass sie sich manchmal sogar auf die Vernehmungen gefreut habe, weil diese grausamen Verhöre immerhin eine Abwechslung zum öden Alltag gewesen seien, brach ihre Stimme.

„Ich finde es beeindruckend, dass Sie uns all das erzählt haben“, sagte der 15-jährige Pascal Hühnerfuß gen Ende zu Eike Christine Radewahn. Diese entgegnete, dass jedes Gespräch über ihre Vergangenheit für sie Heilung bedeute. Nele Hübner, 16 Jahre alt, hat einen Zeitzeugen in der eigenen Familie. Der rede allerdings nicht gern über das Erlebte. Es sei schön, dass es auch Menschen gibt, die bereit sind zu sprechen, sagte sie.

Die Gedenkstätte ermögliche eben nicht nur einen Blick in die Vergangenheit, sondern auch einen Blick in Gegenwart und Zukunft, betonte Bürgermeister Burkhard Exner: „Es geht hier um Demokratie, Menschenrechte und Toleranz.“

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