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Landeshauptstadt: Von Radfahrern, die sich für Straßenbahnen halten

300 Gefahrenstellen für Radler haben die Potsdamer gemeldet. Der gefährlichste Ort ist aber ausgerechnet die Baustelle am Stadthaus

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt in Potsdam viele tolle Radstrecken, wo das Fahrradfahren eine Freude ist. Wo keine Bagger, Laster oder Busse nur so darauf zu lauern scheinen, einem Radler den Garaus zu machen. Aber, und auch das frei heraus gesagt, es gibt gefährliche Stellen, und sie zu finden, ist der Sinn dieser Expedition. Ein Reporter, der sich in dieser Stadt auf die Suche nach Gefahrenstellen für Radfahrer begibt, der stößt unvermeidlich auf Kreuzungen, die ihm in diesem Sinne zuzurufen scheinen: „Verweile doch hier wirst du fündig.“

So an der Puschkinallee. Die Radler kommen aus der Innenstadt und wollen durch die Alexandrowka, vielleicht ins Bornstedter Feld, vielleicht auch einmal nach Krampnitz. Zunächst muss der Radler eine mehrere Zentimeter hohe Asphaltwelle überwinden, die sich seinem Geradeausfahren entgegenwirft. Fällt er dabei nicht, folgen vier einzelne Schienenstränge, die es zu forcieren gilt. Dies nicht etwa mit komfortablen 90 Grad, sondern in einem spitzen Winkel, sodass bei Regen oder gar Eis das Vorderrad unweigerlich wegrutschen muss. Gleichzeitig ist auf die Bahnen zu achten, eine schwere Aufgabe. Eine junge Frau, die sich durch einen Aufruf der Stadt zur Benennung von Gefahrenstellen ermutigt sah, auf die Situation aufmerksam zu machen, erhielt eine recht forsche Antwort, die sie ärgerte. Das sei keine Gefahrenstelle und wenn sie dennoch der Ansicht sei, solle sie doch absteigen und schieben. Und als wäre es ein zynischer Kommentar dazu: Genau an der Ecke steht ein Laternenpfahl, daran hängt direkt unter dem Radwegweiser ein Wanderwegschild mit der Aufschrift „Gehen hält fit“.

Ein junger Mann auf einem Mountainbike – Helm, Mammutjacke, Fahrradbrille – kommt angejagt und sagt, so eine Bodenwelle mache ihm natürlich nichts aus. Bei Älteren könne das freilich anders sein. So einem wie ihm mache aber das Leipziger Dreieck Angst: „Wenn du da von der Michendorfer Chaussee kommst und als Radler richtig Gas gibst, kommst du genau in die Grünphase der Autos rein.“

Solch Reden lädt zum Selbstversuch, dahingestellt, ob ein 30 Jahre altes Damenrad dazu geeignet ist. Zunächst: Die Kreuzung Leipziger Dreieck – Radweg von der Michendorfer Chaussee Richtung Lange Brücke – ist die Mutter aller Shared-Space-Träume, hier steht der Radler auf schmalster Spur neben Bussen, Lkw und BMWs mit aufheulendem Motor in der Pole-Position. Noch ist rot, noch immer, jeeetzt grün! Der Antritt ist kräftig, was Wade und Oberschenkel hergeben, wird gebraucht. Doch es geht gut, nirgends ein Auto auf Kollisionskurs, die Megakreuzung ist zügig überquert, wenn auch mit Herzklopfen.

Nach dem Tod einer jungen Radfahrerin an der Ecke Pappelallee / August-Bonnes-Straße hatte die Stadt Potsdam ihre Bürger zur Meldung von gefährlichen Radwegen aufgerufen. 300 verschiedene Gefahrenstellen sind der Stadt daraufhin genannt worden, sagt Potsdams Radverkehrsbeauftragter Torsten von Einem. Die Auswertung läuft allerdings noch.

Derweil zeugt an der Stelle, wo die 23-jährige Mitarbeiterin der Stadtverwaltung Mitte April starb, kaum mehr etwas von der tragischen Kollision mit einem Laster. Die Einfahrt in die August-Bonnes-Straße ist jetzt dauerhaft verboten, zwei neue, knallrote Verkehrsschilder mit weißem Balken geben davon Auskunft. Am Fuße eines Straßenschildes ragen noch ein paar Welke Blumen aus dem aufschießenden Gras, es finden sich abgebrannte Friedhofskerzen, ein kleiner Engel aus Gips hält seine Augen verträumt geschlossen, über seinem Engelshaar kriecht eine winzige kleine Schnecke, auf einem in Folie eingeschweißten Din-A-4-Blatt steht ein vom Regen verwaschener letzter Gruß: „Wir behalten Dich lieb!“ Das Ganze ein Stillleben der Vergänglichkeit. Eine Mutter holt ihre Tochter aus der nahen Schule ab. Ob die Stadt nach dem Unfall genug tut? „Was tun die denn?“, ruft sie zurück und sagt: „Die Stadt muss mehr tun.“

Nach dem Unfall hatte es geheißen, die Elternvertreter hätten lange vorher vor der Gefahrenstelle gewarnt. Dazu sagt von Einem, der gesamte Schriftverkehr mit den Eltern sei gesichtet, aber nichts dergleichen gefunden worden. Es habe lediglich Warnungen vor zu schnellen Lkw gegeben und es sei vorgeschlagen worden, auf der Pappelallee nur Tempo 30 zuzulassen. Das, sagt von Einem, hätte den Unfall nicht verhindert. Beim Abbiegen sei der vollbeladene Unfalllaster sogar langsamer als 30 Sachen gefahren, ansonsten wäre er ja umgestürzt.

Wenn es nach der Verkehrsbehörde geht, sollten Radler auf dem Weg in die Innenstadt nicht am Stadthaus in der Friedrich-Ebert-Straße vorbeifahren, sondern die Jägerallee nehmen. Was sie jedoch nicht tun. Trotz einer Baustelle, auf der bis zu fünf Bagger gleichzeitig agieren, ignorieren viele Radler das Durchfahrtsverbotsschild. Freilich, „Keine Durchfahrt für Fahrradfahrer“ steht da nirgends. Von Einem erklärt, „Durchfahrt verboten“ und „Frei für Straßenbahnen“ sei eindeutig, das müsse jeder richtig verstehen, der sich nicht für eine Straßenbahn hält. Eigens ein Radfahrverbotsschild anzubringen wäre „eine unzulässige Doppelbeschilderung“.

Zahlreiche Radfahrer scheinen sich jedoch für Straßenbahnen zu halten, sie begeben sich in höchste Gefahr, eine brenzlige Situation folgt der anderen. Da ist ein Radler, der in letzter Sekunde einem rückwärtsfahrenden Bagger ausweicht, hier hält ein Biker direkt auf ein korrekt fahrendes Auto zu – und biegt in letzter Sekunde im Affenzahn auf den Bürgersteig ab. Bis Oktober wird laut von Einem die jetzige Baustellen-Situation andauern. Wenn es bis dahin keinen Unfall gegeben hat, wird man von einem Wunder sprechen dürfen.

Was sagt eigentlich der Bauingenieur dazu, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischt. „Guten Tag, ich schreibe eine Reportage über Gefahrenstellen im Radverkehr. Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass ich hier genau richtig bin?“ Der Mann lacht, „es ist der Horror!“, sagt er. „Stehen die Baggerfahrer nicht mit einem Bein im Knast?“ Seine Antwort: „Klar, die sind alle vorbestraft.“ Er berichtet, die Leute fahren seit 20 Jahren hier mit dem Rad lang und lassen sich – Baustelle hin, Baustelle her – nicht einfach umsteuern. Es gebe radelnde Väter, die einen Kinderanhänger hinter sich herziehen und sich so rechtfertigten: „Die anderen fahren hier auch lang.“ Und da wieder: Ein Auto ausgerechnet vom Ordnungsamt verlässt den Hof der Stadtverwaltung – und zwingt eine Straßenbahn zur Notbremsung

„Potsdam – ein heißes Pflaster“ ist eine Diskussion der SPD in Potsdam-West über das Verkehrskonzept am Donnerstag, dem 6. Juni, ab 19.30 Uhr in der Sportsbar, Zeppelinstraße 139. Im Haus der Natur, Lindenstraße 34, veranstalten die Bündnisgrünen bereits am heutigen Mittwoch eine Diskussion zur Fahrradsicherheit.

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