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Landeshauptstadt: Vom Aussterben des Feierabend-Bieres

Neue Bewohner, neue Läden, neue Probleme: Die Charlottenstraße erfährt eine rasante Entwicklung

Lange Zeit schien die Charlottenstraße wie aus der Zeit gefallen. Die Fassaden bröckelten noch, als andere Teile der Innenstadt längst saniert waren. Doch nun ist aus dem hässlichen Entlein ein schöner Schwan geworden; die Erneuerung der Fahrbahn hat wie ein Signal gewirkt, die Charlottenstraße hat ihre frühere Graumäusigkeit gegen schicken barocken Glanz getauscht. Aber noch ist nicht alles getan. Vor der Hausnummer 98 setzt ein Steinmetz gerade eine vom Denkmalschutz geforderte Sandsteinstufe zwischen die Türrahmen. Seinen wirklichen Namen will er nicht sagen – „Ich bin der Herr Müller“ –, aber er berichtet gern, dass die Oberfläche scharriert ist, wie der Fachmann sagt, also mit Rillen versehen ist, wie der Laie sagt.

Auf so feine Eingangsstufen kann Anette Illner von nebenan noch nicht verweisen. Die Stufen zu ihrem Jugend- und Kinderbuch-Laden sind aus schlichtem Beton, aber das sei nur ein Provisorium, die Sandsteinstufen seien in Arbeit. Früher, sagt die Buchhändlerin, hatte die Charlotte „einen spröden Charme“. Als das Buchgeschäft im Karstadt-Kaufhaus schloss, wo sie vorher arbeitete, und sie sich ihren Traum vom eigenen Buchladen erfüllen wollte, dachte sie erst an einen bestimmten Laden in der Gutenbergstraße. „Gut, dass es nicht geklappt hat“, sagt sie heute, denn immer mehr Kunden finden auch in die Charlottenstraße. Ihr Weihnachtsgeschäft lief gut und auch nach dem ersten Jahr in der Selbstständigkeit kann sie sagen: „Täglich entdecken mich neue Kunden.“ Benannt hat sie ihren Laden nach einem etwa 1690 ausgestorbenen Vogel, der Dronte oder auch Dodo hieß und nur auf Mauritius vorkam. „Dronte“, sagt die ehemalige Hobbyornithologin, „ist ein schönes, kräftiges Wort.“ Zudem: „Ich konnte meinen Buchladen ja nicht ,Seeadler’ nennen “ Schönheit lässt indes die Mieten steigen. Anette Illner hat aber einen Vermieter, „der will, dass auch ich hier bin“. Ob ein Mann, der gegenüber gerade die Isoliergummis seiner Fenster erneuert, noch lange in der Charlottenstraße wohnt, ist hingegen ungewiss. Neun Euro Kaltmiete kann er gerade noch zahlen. Auch sagt er, „man kriegt hier mehr für sein Geld als in der Brandenburger Vorstadt“. Doch die Perspektive seiner jungen Familie sieht so aus: „Wir liebäugeln mit Leipzig.“

Es ist ein Kommen, aber auch ein Gehen in der Charlottenstraße. Das spüren Mareike Metz und René Wulfert-Koch deutlich, die bereits in der dritten Generation die Kneipe „Zum Faß“ betreiben. „Der Kiez ist weg“, sagt er, die Hälfte der ehemaligen Bevölkerung sei in die Randgebiete gezogen. „Es ist traurig, dass sich unsere Leute von früher die Straße nicht mehr leisten können“, sagt sie. René Wulfert-Koch: „Jeder will dazugehören – das treibt die Mieten hoch.“ Der „Klientenwechsel“ sei spürbar; die Zeiten des gepflegten Feierabend-Bieres vorbei. Die Öffnungszeiten mussten deutlich nach hinten verlegt werden; die neuen Kunden schauen vorbei, wenn sie im Nikolaisaal oder im Kabarett „Obelisk“ die letzte Zugabe hinter sich haben. Doch eines wird bleiben: Noch immer gibt es Ross im „Faß“, war doch schon der Großvater von Mareike Metz Roßschlächter in der Charlottenstraße. „Das Pferd ist das sauberste Tier“, betont sie. Das Fleisch ihrer Pferderoulade komme frisch aus Belgien oder Frankreich, wo sie Pferdefleisch sehr schätzen und die Tiere zum Verzehr „wie Rindvieh auf der Wiese gehalten werden“. Leider sei aber bei der Sanierung der Straße eine Anlieferungszone vergessen worden. „Es beliefert uns keiner gern“, klagt die Faß-Wirtin.

Die Neuen in der Charlottenstraße haben ihren Humor mitgebracht. So Boris Erdtmann, der mit seiner Familie vor einem Jahr aus München nach Potsdam zog, in ein Haus von 1871 in der Charlottenstraße, das er zuvor sanierte. Am Eingang hängt ein ovales Schild; darauf sind fünf Erdmännchen zu sehen und die Aufschrift „Home of the Erdtmanns“. Der Mann, der den Erdtmanns den Namen gab, betreibt die Fernsehproduktionsfirma „Earlybird“. Gerade schaut er die Sendung „The Voice of Germany“, mit der er zu tun hat. Erdtmann ist zwar ständig auf der Welt unterwegs, bald geht’s nach Tokio. Trotzdem hat er auch ganz hiesige Probleme. So sollen in den Nikolaigärten hinter seinem Haus Townhouses gebaut werden, die seinem Zuhause die Sonne nehmen werden. „Ich habe 20 Jahre lang 15 Stunden am Tag gearbeitet, um mir das leisten zu können“, schimpft Erdtmann und versteht nicht, wie die Stadt die Bauhöhen genehmigen konnte. Und auch die Straßenreinigung sieht Erdmann kritisch: „Man fragt sich, wo ist die Stadtreinigung?“ Ansonsten aber, sagt er, sei er gut in der Charlottenstraße angekommen – „Bäcker Schröter macht die besten Domino-Steine der Welt“.

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