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„Er lag ganz vorn im Dreck.“ Soldaten im Ersten Weltkrieg nahe der französischen Stadt Verdun. Die Schlacht um Verdun war eine der größten des Krieges.

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Landeshauptstadt: Vaters Trauma

„Eine Frage nur “ – Hundert Jahre nach 1914: Was Potsdamern spontan zum Thema Erster Weltkrieg einfällt

Erster Weltkrieg? Der Mann vor seinem Haus in der Großen Fischerstraße guckt entgeistert. Welche Assoziationen er habe? Jetzt, gleich, hier? Wo es doch hundert Jahre her ist, da er begann „Wir zählen das Jahr 2014, wissen Sie “ Der Mann atmet tief durch, als wolle er sagen: Fragen können Sie einem stellen ! Nun: Ihm fiele schon etwas ein, jede Menge sogar. Doch ihm haben sie sämtliche Fahrräder seiner Familie „abgestochen“, wie er sagt, eben gerade erst hat er es bemerkt. Alle Räder sind platt, die Mäntel sind effektiv mit je einem kräftigen Messerstich durchstoßen worden. „Das ist mein kleiner Erster Weltkrieg“, sagt er und möchte wohl heulen auf der Stelle. Als wenn man nicht schon so genug Probleme hätte ! Er atmet noch einmal tief durch, ringt nach Fassung. Na ja, sagt er, dabei einen großen Sieg über seinen Zorn erringend, er erinnere sich an ein winziges kleines Butterdöschen seiner Großmutter und während er davon erzählt, deutet er mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis an, nicht größer als so groß etwa war es. Kleiner als heutige Butterdosen auf jeden Fall, ein Zeichen für die Nahrungsknappheit in diesen Kriegsjahren. Eine Plauderei über Geschichte hätte ihm wohl schon gefallen, aber „ich hab jetzt gerade keinen Kopf dafür“, resigniert er dann doch und bittet um Verständnis.

Wenige Schritte weiter: Gestützt auf einen Rollator macht ein Mann am Ufer der Alten Fahrt einen Spaziergang im herrlichen Sonnenlicht dieser frühlingshaften Tage. Am letzten Ende des Zweiten Weltkrieges habe er noch mitgewirkt; berichtet er, 1928 geboren war er 1945 erst 17 Jahre alt. Sein Vater jedoch diente als Sanitätssoldat im Ersten Weltkrieg, ganz dicht an der französisch-belgischen Front. Oft erzählte er seinem Sohn von seinen Erlebnissen. Die Ärzte waren sehr roh damals und der junge Mann musste ihnen bei den so häufigen Beinamputationen assistieren. Antibiotika waren noch nicht erfunden, Soldaten mit Beinverletzungen konnten oft nur durch Amputationen von Gliedmaßen gerettet werden. Für den Vater des 85-Jährigen war es ein traumatisches Erlebnis, „das bis zu seinem Lebensende Eindruck auf ihn gemacht hat“: Nachdem das Bein eines Soldaten abgesägt worden war, „schickten sie ihn mit dem abgeschnittenen Bein auf den Ablageplatz“; er musste es dorthin bringen, wo bereits die anderen Beinstümpfe lagen. Und wie das Schicksal sein Spiel treibt: Als sein Vater 93 Jahre alt war, musste ihm wegen altersbedingter Durchblutungsstörungen selbst ein Bein amputiert werden. „Da kam die Erinnerung wieder hoch“, erinnert sich sein Sohn, nun selbst hochbetagt. Schlimmer sei es aber noch dem Bruder seines Vaters ergangen. Sein Onkel, erinnert sich der Mann, war Offizier in Flandern: „Er lag ganz vorn im Dreck.“ Mit dem Frieden nach dem Krieg kam er nicht zurecht; „glücklich war er nicht“. 1923 hat er sich in Berlin erschossen.

Freundlich verabschiedet sich der 85-Jährige. Nicht oft kann er von seinem Vater und seinem Onkel erzählen – „meine Enkel sind viel unpolitischer als ich“, sagt er.

Wie zum Beweis kommt nun eine junge Frau des Wegs, die ihre englische Bulldogge ausführt und zunächst gar nicht versteht, worum es geht. „100 Jahre Erster Weltkrieg“, überlegt die 24-Jährige, „jetzt wo Sie es sagen, ist es mir fast peinlich, nicht daran gedacht zu haben “. Sie überlegt, sagt dann: „Nein, da fällt mir nichts dazu ein.“

Bei drei Männern mittleren Alters ist das anders. Sie angeln in der Alten Fahrt und trinken dabei das eine oder andere Bier. Nein, gefangen haben sie noch nichts an diesem Tag, was sie aber nicht groß zu stören scheint. Die erste Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Da hat die ganze Scheiße angefangen, mit der wir heute noch zu tun haben“, sagt der eine, „leider haben Sie Adolf Hitler nicht getroffen an der Front, dann wäre die Geschichte anders verlaufen“, ergänzt der andere. Die Männer wissen, dass der Erste Weltkrieg zum Versailler Vertrag und dieser wiederum zu Hitler und dem Zweiten Weltkrieg führte, das hängt alles zusammen. Sie denken aber auch, dass Deutschland ohne die Niederlage im Ersten Weltkrieg wohl seine Kolonien nicht verloren hätte. „Kamerun – die wollen heute noch zurück zu uns“, glaubt der eine und reagiert prompt auf die zusammengekniffenen Augenbrauen seines Interviewers: „Da haben sich unsere Vorfahren ausnahmsweise gut benommen, die sind sehr deutschfreundlich dort.“ Nach langem Schweigen sagt der Dritte im Bunde diesen Satz: „Wir haben die Kriege verloren – und das hängt noch an uns.“

Auf dem Rückweg in die Innenstadt wird noch ein älteres Ehepaar aus dem Jetzt und Hier gerissen. Sie sind erst verdutzt, dann fällt dem Mann der Großvater ein, der an der Westfront war und mit den Franzosen in den Feuerpausen Schokolade tauschte. Die Frau schlägt einen Bogen in die Gegenwart und meint: „Deutschland schafft sich ab.“ Das könnte eine gute Nachricht sein, sollte sie an den früheren, seine Nachbarn gefährdenden Nationalstaat denken, doch sie meint es anders: „Es kommen zu viele rein“, findet sie.

„Vaterlosigkeit“. Das ist die erste Assoziation einer jungen Frau in einem Innenstadtcafé. Sie denkt beim Stichwort Erster Weltkrieg zunächst „an die vielen jungen Männer, die wegen der territorialen Vorstellungen eines Kaisers geopfert wurden“. An Männer also, die wegen des Krieges ihren Kindern keine Väter waren.

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