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Landeshauptstadt: Jahre vor dem Prager Frühling

Lothar Aust erlebte den 17. Juni 1953 als 17-jähriger Schüler in Berlin. 1962 scheiterte seine Flucht über die Berliner Mauer

Lothar Aust ist ein vielseitig einsetzbarer Zeitzeuge. Als Junge erlebte er in der Oranienburger Straße in Berlin, 2,9 Kilometer vom Führerbunker entfernt, die letzten Tage des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs: „Die Stalinorgeln pfiffen Tag und Nacht.“ 1962 war er in jenem Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Lindenstraße 54 inhaftiert, in dem ihm nun Schüler gegenübersitzen, um zu hören, was er zu berichten hat. Auf dem Kalender dieses Tages steht aber der 17. Juni 2013, vor 60 Jahren demonstrierten die DDR-Bürger, daher geht es zunächst einmal nicht um Austs gescheiterte DDR-Flucht von 1962. Aber natürlich hängt das auch irgendwie alles zusammen; Aust ist eben ein Zeitzeuge der gesamten jüngeren Geschichte.

Aust war auch kein Antikommunist der ersten Stunde, mit 18 Jahren überlegte er sogar einmal kurz, in die SED einzutreten. „Ich kommen aus einem streng katholischen Elternhaus“, sagt er, und „unser Klassenlehrer hat uns umerzogen“, mit Marx- und mit Engelszungen. „Warte noch ein paar Jahre“, warnte ihn sein Vater, und tatsächlich, „dann war diese Phase längst vorbei“. Da hatte Aust längst Milovan Djilas gelesen – „Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems“ – und da war es mit Austs staatssozialistischen Neigungen geschehen.

Am 17. Juli 1953 also besuchte Aust eine Oberschule 300 Meter von der Stalinallee entfernt. Ein Lehrer schickte die Schüler zu den streikenden Arbeitern. Sie sollten mit diesen darüber diskutieren, was es bedeutet, „gegen die eigenen Interessen“ zu demonstrieren. Der 17-jährige Aust erhielt aber von seinem Schuldirektor, dem er in die Hände lief, einen Spezialauftrag, da Aust ein Rad dabeihatte: „Du fährst in der Gegend herum und berichtest mir, was passiert.“ Der Schüler sah, wie Arbeiter auf dem Alexanderplatz einen Lkw kaperten, der Bierkästen geladen hatte. Der Bierkutscher überließ seine Fuhre der Allgemeinheit mit dem Satz: „Macht doch was ihr wollt, es ist ja nicht mein Bier.“ An der Oberbaumbrücke sah Aust ein brennendes Zollhaus und Demonstranten, die gerade dabei waren, Zöllner oder Polizisten in die Spree zu werfen.

Die Jahre vergehen, Aust studiert Chemie an der Humboldt-Universität, danach wird er Assistent am Chemie-Institut der Uni. Er ist Schüler von Robert Havemann, einer der kritischsten und wachendsten Denker dieser Zeit, Kommunist und DDR-Regimekritiker in einer Person. Den Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 erlebte er im Zelt mit seiner Freundin an der Ostsee. Mauerbau? So was geht nicht, denken sie, das lassen die Amerikaner nie zu. „Pustekuchen“, sagt Aust zu den Schülern. Aus einem Kofferradio hört Aust: „Die Übergänge sind nur mit spezieller Genehmigung zu passieren“, da weiß er, was in Berlin los ist. Eigentlich hat Aust geplant, erst nach seiner Promotion 1964 in den Westen zu gehen. Die Mauer schuf eine neue Situation, Aust plant mit Freunden von der Uni sowie seiner Freundin die Flucht. Am 2. November 1962 stehen sie zu fünft im Niemandsland bei Kleinmachnow, da hören sie eine Streife, sie pressen sich auf die Erde, doch sie werden entdeckt. Zwei Grenzer stellen sie, die Soldaten schießen in die Luft, „aber es kam keiner“. So teilen sie sich, einer geht, um Verstärkung zu holen, der andere hält die fünf mit der Maschinenpistole in Schach. „Komm doch mit“, locken sie ihn, doch der antwortet: „Ich verrate die Deutsche Demokratische Republik nicht“.

Aust wird nach der Untersuchungshaft in der Lindenstraße 54 durch das Kreisgericht Potsdam zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung findet er eine Anstellung am Institut für Ernährung in Rehbrücke. Zum 17. Juni 1953 wird er später stolz sagen, „wir waren die Ersten“, noch vor dem Ungarnaufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968. In Prag hat er noch im Mai 68 eine „New York Times“ gekauft, im SED-Blatt „Neues Deutschland“ stimmte ja „allenfalls das Datum und der Preis“.

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