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Landeshauptstadt: Eine Straßenbahn will niemand

Entgültig nach Potsdam eingemeindet wurde Eiche im Jahr 1993. Seitdem wächst der Ortsteil stark. Die Eichener äußern sich stolz und zufrieden

Seit 6 Uhr steht Oliver Miks in seinem Kiosk und daran ändert sich bis 18 Uhr nichts. „Kapitalismus“, sagt er lakonisch, „wie der funktioniert, haben wir ja in der Schule gelernt.“. Morgens fällt in den ersten zwei Stunden zumeist kein Wort, warum viel reden zur frühen Stunde? Miks weiß, wer wie seinen Kaffee haben will und wer welche Zeitung kauft. Das ist dann ein wenig wie jetzt, da Jan-Hendrik Gorgs den kleinen Laden in der Kaiser-Friedrich-Straße betritt. Ein kurzes Kopfnicken, Miks zieht eine Schachtel rote Gauloises aus dem Regal, warum sollte Gorgs auch auf einmal blaue rauchen wollen? Gorgs, der gar nicht weit weg einen Getränkemarkt betreibt, füllt sich einen Becher am Kaffeeautomaten. Wie sich Eiche entwickelt hat, findet er schon ganz gut, er ist zufrieden. Nun ja, der Straßenlärm hat zugenommen und ein wenig ist der Ortsteil zur Schlafstadt geworden, „früher war mehr Leben drin“. Und dann sagt Gorgs plötzlich den Satz, der zu so etwas wie der Grundkonsens der Eichener zu sein scheint: „Wir wollen hier keine Straßenbahn!“

Eine Tram in Eiche brauche sie persönlich auch nicht, bekennt Heidi Schröder vom Friseursalon schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Kaiser-Friedrich-Straße. „Die Busse fahren oft.“ Der Blick jedes Kunden muss im Salon unweigerlich auf eine alte Kasse fallen. Über 100 Jahre alt ist das gute Stück, Vorkriegsware also, Erster Weltkrieg, hergestellt von der Anker-Werke AG. Bei bestem goldenen Oktober lässt Heidi Schröder die Salontür offen, der Verkehrslärm stört sie nicht, die Straße bringt Kunden. „Der Salon läuft gut“, verrät die Chefin. Die Zahl der Köpfe, deren Haare sie schneiden kann, ist in Eiche in den letzten Jahren rasant gestiegen, auf etwa 4500. Weitere 1000 Neu-Eichener, vor allem Senioren und Studenten, werden dazukommen, denn die Firma Semmelhaack errichtet ein neues Viertel auf dem ehemaligen Kasernengelände, die ersten Bagger sind bereits in Aktion. Ortsvorsteher Ralf Jäkel, ein Parteiloser in der Stadtfraktion der Linken, findet, das neue Semmelhaack-Viertel mit vorwiegend kleinen Wohnungen sei „eine gute Bereicherung des Marktes“.

Der Ortsteil Eiche wächst und mit ihm auch die Grundschule „Ludwig Renn“, die saniert und erweitert wurde. Mathematiklehrerin Anke Liesegang nutzt das schöne Wetter und macht mit ihrer 4. Klasse eine praktische Übung im Freien. Die Schüler hatten als Hausaufgabe auf, Länge und Breite von Schule und Schulhof zu schätzen. Mit Zollstöcken hantierend messen die Jungen und Mädchen nun nach, ob sie dabei richtig lagen. Anke Liesegang ist seit 1985 an der Schule und wohnt seit 1982 in Eiche. Sie findet, dass der alte Ortskern mit dem Eigenheim-Viertel „Altes Rad“ gut zusammenwächst: „Die Kinder können hier ohne Sorge aufwachsen.“

Aber Sorgen haben sie in Eiche auch. Zumindest die Anwohner der Lindstedter Straße, die mit den Jahren immer zahlreicher wurden, deren Straße aber blieb, was sie schon immer war: eine Sandpiste, auf der Autos jede Menge Staub aufwirbeln. Nun aber soll etwas geschehen sein. Ortsvorsteher Ralf Jäkel berichtet von einer durch die Stadt im Zuge der „Gefahrenabwehr“ aufgetragenen Schotterschicht. „Es gibt eine große Zufriedenheit der Anlieger mit dem erreichten Ergebnis“, sagt Jäkel. Das, denkt man sofort, muss man gesehen haben.

Es ist ein kleiner Aufstieg an der Sonnenseite von Eiche. Der Ort liegt auf den Ausläufern einer Eiszeitplatte. Da, wo sich Baumschulenweg und Lindstedter Straße treffen, kniet ein Stadtwerke-Mitarbeiter im Blaumann neben einem Gulli, dessen Deckel er zur Seite gewuchtet hat. An einem langen Faden lässt er etwas in die Tiefe der Kanalisation herab, was an einen Klumpen Vogelfutter erinnert. Es ist aber Rattengift. Turnusmäßig, wie der Mann sagt, mache er seine Arbeit, einmal im Frühjahr und einmal im Herbst. Doch, doch, insistiert er, das Gift wirke „teilweise schon“. Die Köder seien jedenfalls immer weggefressen, „aber wie es schmeckt, kann ich nicht sagen, ich hab’s noch nicht probiert“.

Die Lindstedter Straße wirkt mit ihrer frischen Schotter-auf-Bitumen-Schicht sonderbar behelfsmäßig im Vergleich zu den ausgebauten Straßen der Umgebung, etwa am Alten Rad. Warum sollen die Anwohner damit zufrieden sein? Über seinen Gartenzaun lehnt Willi Koch und ist umgehend bereit, die lange Geschichte der Lindstedter Straße zu erzählen, beginnend mit dem König, der mit seiner Kutsche hinwegfuhr zum Schloss Lindstedt. Es muss schon damals mächtig gestaubt haben, aber seit letzter Woche, seit die neue Schicht drauf ist, ist das Übel Vergangenheit. Doch neue Probleme treten auf, sagt Willi Koch, der als Parteiloser im Ortsbeirat sitzt. Nun fahren die Leute schneller als vorher, „die Straße wird zur Rennstrecke“. Soeben habe er höchstpersönlich einen Paketboten gestoppt, der mit über 60 Sachen daherkam. Der hat nur abgewunken, ärgert sich der Rentner, und die Hinterreifen seines Kleinlasters durchdrehen lassen. Willi Koch zeigt auf die Stelle, an der die Deckschicht aufgerissen ist. Eines wird klar, ewig hält das Ganze nicht. Obwohl es ein Provisorium ist.

Eine schöne Szene auf einem Spielplatz am Alten Rad: Ein gutgelauntes, einjähriges Kind, eine glückliche Mutter, frohe Großeltern. Vor einem Jahr sei sie nach Eiche gezogen. Sie habe einen Kita-Platz bei den „Wilden Früchtchen“ gefunden, bald hat Töchterchen dort ihren ersten Tag. „Hier fehlt uns nichts“, sagt die junge Frau und ergänzt: „Von mir aus brauchen wir keine Straßenbahn!“

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