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Landeshauptstadt: Die Letzten von der Vorderkappe

Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in der Templiner Vorstadt auf einer alten Müllkippe eine Holzhaus-Siedlung für Arbeitslose. Nun weicht sie Stück für Stück einer Grünfläche

Das hat er noch nie erlebt, dass sie einen schicken, der die Dachrinnen sauber macht. Mario Wegener sitzt unter einem Vordach und genießt die Frühlingssonne und seinen Feierabendkaffee. Auf dem Flachdach des Häuschens, das er mit seiner Partnerin bewohnt, turnt ein Mann im Blaumann und inspiziert die Dachrinnen. Mario Wegner lacht, der Typ auf seinem Dach hat den Auftrag, die Dachrinnen von Nummer zwei bis 38 zu säubern. „Der hat ’nen schönen Tag gehabt heute“, grinst der 49-Jährige. Eine Reihe von Häusern samt ihrer Dachrinnen gibt es gar nicht mehr; sie sind abgerissen worden in den letzten Monaten. Von den Holzbauten der Potsdamer Siedlung An der Vorderkappe stehen nur noch wenige, ihr Ende ist absehbar. Waren es einst dreißig bis vierzig Bewohner, sind nun nur noch sechs da. Immer wenn einer auszog, kam niemand nach, die eingeschossigen Holzhäuser verfielen. Auch Mario Wegener macht sich seine Gedanken. Doch sein Anwalt sagt: „Nur die Ruhe, die kommen schon, wenn sie ’was wollen.“

Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Wohnungsnot in Potsdam. Dem begegnete die Stadt in den Jahren 1918/19 mit dem Bau der Holzhaussiedlung auf der abgedeckten Müllkippe an der Vorderkappe in der Templiner Vorstadt. Die Häuser entstanden aus dünnen Bretterwänden, dazwischen ein paar Sägespäne als Dämmung, eher Baracken ähnelnd, denn sie mussten leicht sein, um nicht in den mehrere Meter dicken Müllschichten einzusinken. Vier Wohnungen bilden eine Baracke – vier Eingangstüren, vier Wohnzimmerfenster, vier Schornsteine auf dem Dach, für den Schornsteinfeger verbunden durch einen Brettersteg. Vielfach geflickte Dachpappe hält den Regen ab, sofern noch bewohnt. Am Briefkasten der Nr. 26 steht dreimal die Aufforderung „Keine Werbung“; als die Bewohner auszogen, machten sie ihren auf dem Briefkasten stehenden Nachnamen eilig mit dem Fingernagel unleserlich. Weniger Hausnummern weiter hat sich ein „D. Kuberczyk“ diese Mühe nicht mehr gemacht. Vor oder hinter den verlassenen Häusern, an der Pflasterstraße oder im Garten, stehen Fahnenmasten, an denen klassische Fernsehantennen montiert sind oder auch Satellitenschüsseln – je nachdem, zu welchem Zeitpunkt der technischen Entwicklung die Häuser verlassen wurden.

Eigentümer der Siedlung ist die zur Stadtholding Pro Potsdam gehörende Gewoba. Deren Sprecherin versucht, den verbliebenen Mietern die Ängste zu nehmen. Diese hätten „unbefristete Mietverhältnisse und können demnach so lange dort wohnen bleiben, wie sie möchten“, versichert sie. Die ungenutzten, teils einsturzgefährdeten Häuser hätten aus Sicherheitsgründen abgerissen werden müssen, da oft Fremde in diese eindrangen und es offene Feuerstellen gegeben habe.

„Bis jetzt hat noch keiner gesagt, dass wir raus müssen“, bestätigt die 84-jährige Inge Bielefeld, die 1935 als Fünfjährige in die Siedlung kam. Ihr Mann Arno wurde 1925 sogar an der Vorderkappe geboren. Die Frau kommt gern an den Gartenzaun, es fragt ja nicht jeden Tag jemand, wie es war, ihr Leben an der Vorderkappe. Es war immer eine Siedlung „für Leute, die wenig Geld hatten“, sagt sie. Zu DDR-Zeiten zahlte sie für zwei Zimmer, Küche, Toilette und Keller 25,60 Mark – „eine wunderbare Sache“. Heute sind es 300 Euro, aber sie ist zufrieden, „ich beklag mich nicht“. Sie hat in ihrem Holzhaus eine Forsterheizung, eine Art Zentralheizung, die hält das Häuschen warm im Winter. Der seit Jahren leer stehende Jugendclub 22 – in den 1980er-Jahren ein heißer Schuppen, wie manche sagen – war vorher ein Waschhaus mit zwei oder drei Waschküchen. Sogar eine Heißmangel war da und ein Wäscheplatz. Die Vorderkappe, sagt Inge Bielefeld, hatte sogar einen eigenen Gärtner, der die Hecken schnitt. „Das hat es alles früher mal gegeben.“

Ein Mann geht mit seinem Hund „Moritz“ auf der Straße An der Vorderkappe spazieren. Viele Bewohner der Templiner Vorstadt gehen diesen Weg, er führt hinunter zum Ufer der Havel, die an der Halbinsel Hermannswerder eine Bucht bildet, die den Namen Vorderkappe trägt. Der Hundebesitzer wohnt oberhalb, „auf dem Schuldenberg“, dort wo zu DDR-Zeiten 26 Einfamilienhäuser mit typischen Wellen-Dächern aus Beton entstanden. Schuldenberg deshalb, weil die Leute sagten, „die müssen lange abbezahlen“. Den Club 22 hätte die Stadt auch gern abgerissen, doch das Geld sei alle, haben ihm die Bauarbeiter erzählt. Die Augen des Mannes werden groß, er lächelt: Der Club 22! „Was wurde dort in den 80ern gesoffen!“, ruft er nostalgisch. Wenn er seinen Moritz täglich ausführt, hört er so dies und das. Ein Anwohner der Vorderkappe sei ausgezogen, weil das Herz die Aufregung nicht mehr vertrage, ein anderer dagegen klage wegen des Verschwindens seines Gartens. Nach Auskunft der Gewoba-Sprecherin ist im Flächennutzungsplan an der Stelle der Siedlung Vorderkappe eine Grünfläche vorgesehen, „weshalb dort auch nicht gebaut werden darf“.

Ein junger Mann, der in einem der letzten verbliebenen Gärten an einem Boot hantiert, bleibt skeptisch: „Wenn genug Geld im Spiel ist, ist alles möglich.“ Die Immobilienleute hätten die Teltower Vorstadt längst entdeckt. Tatsächlich dringt von der Templiner Straße das Wummern eines Abrissbaggers herüber. Dort sollen Zweigeschosser entstehen, sagt er, im Internet werde schon dafür geworben. „Veränderung gehört dazu“, sagt der 35-Jährige, doch wenn überall „Nobelbuden entstehen, kann der normale Mittelstand sehen, wo er bleibt“.

Mario Weber weiß, wo er bleibt, bis er mal nicht mehr ist: in seinem Haus An der Vorderkappe, an dem schon sein Vater werkelte, das sie zu DDR-Zeiten mit Wagenhebern einmal komplett angehoben haben, um Eisenbahnschwellen darunter zu legen. Die Leute haben ihre Häuser immer in Schuss gehalten, sagt er. Das wäre auch so geblieben, wenn die Gewoba sie an ihre Bewohner verkauft hätte, wie es mal geplant war. Dann wäre auch die Gemeinschaft geblieben, das Dorf in der Stadt, „eine riesengroße Gemeinschaft bis kurz vor der Wende“. Feten wurden gefeiert, „das war Wahnsinn“, erinnert sich Wegener, einer der letzten von der Vorderkappe, und schaut in seine halbvolle Kaffeetasse: „Aus und vorbei die Zeit.“

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