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Landeshauptstadt: „Den Vertriebenen geht es um knallharte materielle Fakten“ Lutz Boede lehnt das Denkmal gegen Vertreibungen ab

Lutz Boede (38) ist Mitglied der Potsdamer Stadtverordnetenfraktion Die Andere und der Kampagne gegen Wehrpflicht. Boede übt scharfe Kritik am Potsdamer Denkmal gegen Flucht und Vertreibung.

Lutz Boede (38) ist Mitglied der Potsdamer Stadtverordnetenfraktion Die Andere und der Kampagne gegen Wehrpflicht. Boede übt scharfe Kritik am Potsdamer Denkmal gegen Flucht und Vertreibung. Herr Boede, woran denken Sie beim Stichwort „Vertriebene“? Ich frage skeptisch nach, welches Schicksal sich dahinter verbirgt. Vom BdV wird jeder als Vertriebener und als Opfer dargestellt, der nach dem Zweiten Weltkrieg die ehemaligen Ostgebiete verlassen hat. Das ist nicht richtig. Wir müssen vier Phasen klar voneinander unterscheiden: Erstens die Zwangsevakuierung durch die Wehrmacht, zweitens die Flucht der Deutschen nach dem Abzug der Wehrmacht, drittens die sehr kurze Phase der tatsächlichen Vertreibung und viertens die Umsiedlung der Deutschen nach dem Potsdamer Abkommen. Kennen Sie persönlich das Schicksal von Vertriebenen? Meine Großeltern und mein Vater sind in Breslau geboren und vor der Roten Armee geflohen. Meine Großmutter hat mir ihre Flucht erklärt: Wenn die Russen uns nur halb so viel antun wie die Deutschen den Polen angetan haben, dann können wir hier nicht mehr leben. Es gab bei uns nie einen Zweifel daran, wer Schuld an den Vertreibungen hatte. In Potsdam wurde am 15. November der Gedenkstein gegen Flucht und Vertreibung eingeweiht. Sie waren und sind dagegen. Warum? Wir haben ein anderes inhaltliches Verständnis von „Vertreibung“. Der BdV versucht mit seinem Gedenkstein die damaligen Geschehnisse ahistorisch darzustellen und definiert dabei die Opfergruppe willkürlich. Der BdV will so die Opferzahlen künstlich hochtreiben. Es wird anderen Ländern einfach die Schuld für die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges in die Schuhe geschoben. Also gibt es ihrer Meinung nach kein Unrecht, dass den Vertriebenen widerfahren ist? Sicher gab es Menschen, die zu Unrecht Opfer von Vertreibung wurden. Das ist unstrittig. Auch sind die Benes-Dekrete, die eine gewaltsame Vertreibung gedeckt haben, nicht zu rechtfertigen, aber sie sind historisch sehr gut nachvollziehbar, wenn man weiß, was vorher von deutscher Seite passiert ist. Schließlich haben die Sudetendeutschen den Anschluss der Tschecheslowakei an das Deutsche Reich vorangetrieben. Deshalb haben sich die Alliierten nach dem Krieg entschieden, die deutsche Minderheit umzusiedeln. Sie sahen damals die Gefahr, dass diese Volksgruppe dort wieder Unfrieden stiften und damit neue Kriegsursachen schaffen könnte. Das war nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges folgerichtig und politisch korrekt. Aus heutiger Sicht kann man das ambivalent bewerten, doch diesen Teil der tschechischen Geschichte aufzuarbeiten ist allein Sache der Tschechischen Republik. Sie lehnen auch das geplante Mahnmal gegen Vertreibungen in Berlin ab? Wozu brauchen die Vertriebenen einen eigenen Gedenkstein? Für die Opfer von Faschismus und Krieg gibt es doch Mahnmale. Wenn der BdV ein eigenes Denkmal will, dann unterstreicht er doch, dass er die Vertriebenen nicht als Opfer des Faschismus, sondern eines anderen Landes ansieht und das ist historisch falsch. Bei dem Mahnmal in Berlin kämpft der BdV zudem offensichtlich für eine symbolische Gleichsetzung mit dem geplanten Holocaust- Mahnmal. Da wird versucht die Vertriebenen mit den Opfern der Judenverfolgung auf eine Stufe zu stellen, um die eigene Kriegsschuld zu relativieren. Der BdV unterstreicht aber, dass er auch der anderen europäischen Vertriebenen gedenkt. Das ist absurd und geschmacklos. Es steht dem BdV überhaupt nicht zu, Opfergruppen selbst zu definieren und ein Mahnmal für alle europäischen Vertriebenen zu errichten. Schon die Opfer-Reihenfolge sagt viel aus: erst die deutschen Opfer und dann die anderen. So kämpft der BdV für die formelle Gleichsetzung der Vertriebenen mit anderen Opfergruppen. Sie wollen nicht die Aussöhnung, sondern Entschädigungsansprüche durchsetzen. Es geht hier um knallharte materielle Fakten. Die Polen haben Angst, dass die Deutschen nach ihrem Land greifen. Unterstellen Sie dem BdV rechtsextreme Tendenzen? Es wäre sehr hilfreich, wenn der BdV seine eigene Geschichte sehr kritisch aufarbeiten würde. Er sollte rechtsextreme Tendenzen klar ausschließen. Bisher gibt es im BdV zwei Strömungen. Die eine konstruiert deutsche Volksgruppen in Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik und kämpft im Zuge der EU-Osterweiterung für deutsche Minderheitenrechte in diesen Ländern. Das ist doch absurd. Ich kenne keinen polnischen Verband, der sich gleichbedeutend mit dem BdV hier für die Rechte der polnischen Minderheit stark macht. Die zweite und klassische Strömung des BdV ist die „Wir wollen unsere Gebiete zurück“. Fairerweise muss man hinzufügen, dass diese Strömung wegen der sich gewandelten Rahmenbedingungen an Bedeutung verloren hat. Also können Sie dem Engagement des BdV nichts Positives abgewinnen? Nein. Der BdV ist ein Relikt des Kalten Krieges. Er leistet keinen Beitrag zur Versöhnung oder zur Aufarbeitung der Geschichte. Er behindert beides durch die Unterstützung von Gebietsansprüchen und die ahistorische Gleichsetzung der Vertriebenen mit anderen Opfergruppen. Wie kann der vorhandene Konflikt um die Vertriebenen gelöst werden? Historiker sollten sich mit dieser Epoche befassen. Der BdV sollte aus dieser Debatte ganz herausgehalten werden. Eine sinnvolle Diskussion setzt schließlich den Verzicht auf Rückübertragungsansprüche und Vertriebenendenkmal ebenso voraus wie eine kritische Öffentlichkeit. Interview: Michael Kaczmarek

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