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Landeshauptstadt: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“

Die Potsdamer wünschen sich im neuen Jahr vor allem Gesundheit – aber auch ein gutes Abi, mehr Radwege und wer noch keinen hat, einen Job

O kay. Der könnte einem ja auch Versicherungen verkaufen wollen. Oder er ist ein Seelenfänger, weil er von einer Kirche oder Sekte kommt. Aber so eine journalistische Umfrage unter den Potsdamern, was sie sich für das neue Jahr wünschen oder was sie sich für 2014 vornehmen, ist natürlich auch ein Humortest. Einige bestehen ihn, andere nicht. In der Straße Am Kanal läuft ein älteres Ehepaar und sie hätte schon gern was sagen wollen, aber er winkt knirschig ab. „Lass mal “, raunzt er und geht vorbei. „Ich will Ihnen gar nichts verkaufen “ Zwecklos.

Da kommt einer daher, der eine Flasche Bier in der Hand und mehrere leere Bierkästen im Handwagen dabei hat. „Freiberger“ steht auf den Kästen. „Friede auf Erden“, sagt er, lacht, und zieht weiter. Plötzlich dreht er sich noch einmal um und ruft „Peace Bruder!“.

Gesundheit steht an erster Stelle. Die Leute wollen 2014 vor allem gesund bleiben oder werden. Ein Kollege will nicht mehr rauchen, eigentlich der Klassiker der guten Vorsätze, der aber bei dieser kleinen Umfrage keine Rolle spielt. Wahrscheinlich, weil ohnehin kaum noch jemand raucht. Sie jedenfalls habe es schon vor vielen Jahren aufgegeben, sagt eine von zwei Freundinnen, die am Kanal entlangbummeln. Ihre Begleiterin, eine Dresdnerin, wünscht sich in der Tat Gesundheit für sich und ihre Familie, „alles andere hat man ja selbst in der Hand“.

Aus der entgegengesetzten Richtung kommt eine junge Frau mit ihrem neunjährigen Sohn und ihrer kleinen Tochter auf einem Dreirad. Sie wünscht sich 2014 „einen neuen Job“, nun, da das Erziehungsjahr hinter ihr liegt. Sie ist Kauffrau für Bürokommunikation, also Sekretärin, sagt sie. Der Neunjährige erklärt, beim neuen Landtag hätten sie seine Mutter nicht genommen, weil sie dort Behinderte bevorzugt einstellen. „Vermuten wir“, sagt die Frau. Da für eine Stelle in Potsdam 350 Bewerbungen eingingen, vermute sie auch, dass sich auch die Berliner für Arbeit in Potsdam interessieren. „Jetzt“, sagt sie selbstbewusst, drehe sie den Spieß um, und bewerbe sich auch in Berlin. Wenn nicht der Fahrweg so lang wäre Außerdem, lässt sie noch wissen, wolle sie 2014 häufiger joggen gehen. Nun will sie von ihrem Sohn wissen, was er sich für 2014 vornimmt – „mehr helfen im Haushalt?“ Die Antwort: „Verrate ich nicht!“

Eine junge Frau, 22 Jahre alt, wie sie gleich mitteilen wird, kommt über den Bassinplatz gelaufen. Sie hat nichts gegen ein kurzes Gespräch über das neue Jahr, in dem, wie sie betont, endlich mehr für den Verkehr in Potsdam getan werden müsse. „Die Politiker sollen es geregelt kriegen“, findet sie. Das Von-hier-nach-da-Kommen müsse flüssiger ablaufen, „selbst die Tram ist ständig überfüllt“. Aber sie weiß schon, wie sie gut vorankommt, denn sie hat ein Motorrad, eine 250er Hyosung. „Das ist nicht ungefährlich “ Sie nickt. „Man hat ja nicht umsonst ein Organspendeausweis“, antwortet sie kokett, „aber schreiben Sie das nicht“. 2014 wird für sie ein besonderes Jahr, denn im Mai beendet sie ihre Ausbildung als Immobilienkauffrau und wird wahrscheinlich übernommen. „Dann“, sagt sie  und es beruhigt sehr wegen der größeren Knautschzone, „kommt das eigene Auto“.

Eine Frau packt ein. Sie trägt einen grünen Hut, einen braunen Strickpullover und eine niedliche Nickelbrille. Seit sechs Uhr stand sie mit ihrem Gemüsestand auf dem Bassinplatz und jetzt reicht’s! Schließlich müsse sie noch Kartoffelsalat zubereiten, denn die ihrigen wollten Kartoffelsalat am Silvestertag. Nie wieder würde sie sich selbstständig machen, sagt sie, „in diesem Staat“. Wer alles etwas von ihrem Geld abhaben will, dass sie mit dem Gemüseverkauf einnimmt Nach Steuern, Versicherungen, Abgaben, Pflichtbeiträgen und so weiter bleibe nicht viel übrig. Aber es reicht zum Überleben und überhaupt, „das letzte Hemd hat keine Taschen“. Eine Dame schreitet über den Platz, an der Hand eine französische Bulldogge, „ein Gesellschaftshund“, wie sie sagt, „kein Kampfhund“. Die 77-Jährige wünscht sich in 2014, „dass alles so bleibt, wie es ist“. Sie habe eine schöne Wohnung, sie sei gesund und ansonsten „nehme ich es, wie es kommt“. Potsdam sei wunderschön, wenn auch „der Menschenschlag“ in Brandenburg anders sei als im Rheinland, wo sie ursprünglich herkommt. „Es gibt so viele Pessimisten hier“, sagt sie, was sie nicht recht verstehe, denn in Potsdam sei vieles besser, sogar das Wetter. „Dort regnet es mehr.“

Da geht ein junger Mann mit bandagierter Hand; er war im Klinikum zur Kontrolle, denn Heiligabend ist er gestürzt, brach sich zwei Finger und wurde operiert. Natürlich wünscht er sich Gesundheit, er will bald wieder radfahren. Potsdam, meint er, müsse noch fahrradfreundlicher werden: „Mehr Vorfahrt für Radfahrer.“ Ansonsten wünscht sich der 25-Jährige ein gutes Abitur, das er 2014 am Oberstufenzentrum machen wird.

Auf dem Bassinplatz spielen ein paar Studenten Boule. Sie wollen, dass sie sich Wohnen in Potsdam weiterhin leisten können. Dass „sich die bürgerliche Mittelschicht etwas zurücknimmt“, mag schon mehr eine Forderung als ein Wunsch sein. Ihnen missfällt, dass „eine lobbystarke Minderheit den Diskurs in der Stadt bestimmt“, dass „alles glatt und sauber“ werde; auch haben sie etwas gegen „rückwärtsgewandte Architektur“. Es würden Gebäude wiederaufgebaut, „die durch die Geschichte zu Fall gebracht wurden“ – die beiden Mittzwanziger lassen keinen Zweifel daran, dass sie das nicht gut finden.

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