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Homepage: „Das Gefühl, aus der Welt zu fallen“

Jan Philipp Reemtsma über Urvertrauen, schreckliche Situationen und wiedergewonnenes Vertrauen

Herr Reemtsma, ich soll meiner Bank vertrauen, meinem Arzt, dem Kantinenkoch oder anderen Verkehrsteilnehmern. Wie gelingt es, jeden Tag wieder aufs Neue dieses Vertrauen aufzubringen – zumal es oft auch enttäuscht wird?

Zum einen „sollen“ Sie nicht vertrauen, sondern Sie tun es meistens. Zum anderen widerspricht die Enttäuschung von Vertrauen nicht dem Vertrauen. Vertrauen heißt niemals, ganz auf Vertrauen zu setzen. Sie brauchen immer die Fähigkeit zu unterscheiden, in welchen Situationen Sie meinen, vertrauen zu wollen und wann Sie besser aufmerksam sind. Vielleicht gehen Sie nach Mitternacht nicht überall spazieren. Dabei wägen Sie ab, differenzieren – das widerspricht aber nicht der Fähigkeit zu vertrauen. Die geht nach der Enttäuschung nicht verloren, sie wissen nur genauer, wann es besser ist zu vertrauen und wann zu misstrauen.

Ist diese Fähigkeit eine zivilisatorische Errungenschaft des Menschen?

Es gibt eine psychoanalytische Theorie, dass in der frühen Kindheit so etwas wie ein Ur- oder Grundvertrauen aufgebaut wird. Gemeint ist damit, wenn eine Kindheit gelingt, wird die Fähigkeit zu einem positiven Verhältnis zur Welt aufgebaut: Nicht alles wird gut gehen, aber nicht alles ist gegen mich. So kann man sich adjustieren, kann abwägen, ob man Vertrauen schenkt oder vorsichtig ist. Wenn dieser frühe Lernprozess permanent enttäuscht oder sogar ruiniert wird, also wenn ein Mensch nie stabile Beziehungen aufbauen kann, immer getrieben ist von oft grundlosen Befürchtungen, dann wird er im späteren Leben größere Probleme bekommen.

Was meinen Sie mit gelungener Kindheit?

In der Regel eine stabile Eltern-Kind-Beziehung, Zuwendung, die Fähigkeit, die nicht immer artikulierten Wünsche eines kleinen Kindes wahrzunehmen. Sich diesen Wünschen nicht zu unterwerfen, aber sie zu erkennen.

Sie gehen beim Vertrauen von einem evolutionären Konzept aus.

Das Individuum kommt nicht mit Vertrauen auf die Welt, aber mit der Fähigkeit zu vertrauen. Solche Fähigkeiten – zu wissen, wann man vertrauen kann und wo Misstrauen angemessen ist – werden in sozialen Beziehungen ausgebaut - oder nicht. Und sie werden im Laufe des Lebens Anforderungen ausgesetzt. Vieles von dem, was um uns herum passiert, wissen wir gar nicht. Wir müssen uns darauf verlassen, dass bestimmte Dinge funktionieren. Wir wachen morgens nicht mit leerem Kopf auf, sondern tragen mit uns die Erfahrungen ganzer Generationen. Nachdenken können wir darüber meist nicht – wir würden ja darüber verrückt werden. Unser Leben ist voll von unausgesprochenen Voraussetzungen, was getan werden muss und was nicht. Wenn sie sich darüber klar würden, was sie alles immer voraussetzen, beispielsweise was andere Menschen ihnen antun könnten, aber ziemlich sicher nicht werden, könnten sie das Haus nicht mehr verlassen. Je komplexer Gesellschaften werden, desto mehr müssen Sie voraussetzen.

Ein täglicher Balanceakt.

Nein. Balanceakte vollzieht man bewusst. Gesellschaft funktioniert nicht ohne permanente Akte des Vertrauens. Aber wohlgemerkt: Sie können auch in sehr unangenehmen Situationen Vertrauen haben, und wenn es nur das Vertrauen in sich selbst ist, dass Sie eine Idee haben, was Sie als nächstes tun müssen. Sie können sich auch in sehr unangenehmen Situationen bewegen. Man nennt das: durchkommen. Die Geschichte zeigt, dass Menschen fähig sind, in sehr schrecklichen Umständen zu überleben. Sonst gäbe es ja keine Menschen mehr.

Sie selbst wurden vor 15 Jahren Opfer einer Entführung. Hat das Ihr Vertrauen nicht vollends erschüttert?

Im Augenblick des Geschehens ja. Ich hatte das Gefühl, aus der Welt herauszufallen. Aber man fällt natürlich nicht aus der Welt heraus. Man fällt völlig unvorbereitet in eine Situation, in die man nie geraten wollte. Das bedeutet auch, dass man Schritt für Schritt herausbekommen muss, was man in der Lage tun kann, womit man zu rechnen hat. Man ist nicht ewig gelähmt. Auch wenn die Rückschlüsse dann dennoch oft falsch sind. Weil sie solche Fähigkeiten der Adaption herausbilden, können sie sich auch später wieder an die Normalität zurück adaptieren. Das ist ein sehr langer Prozess und er kann gelingen oder auch nicht.

Wem oder was vertrauen Sie heute?

Zum Beispiel vertraue ich in diesem Moment Ihnen. Sie sitzen mir gegenüber, stellen mir Fragen, und ich gehe davon aus, dass Sie nicht plötzlich über mich herfallen. Ihnen geht es ebenso. Ohne diese permanente wechselseitige Unterstellung könnte keine zwischenmenschliche Aktion stattfinden. Wir brauchen diese beständige Bugwelle des Vertrauens, um in der Welt überhaupt navigieren zu können. Es geht gar nicht anders. Man kann nicht permanent misstrauisch sein und zweifeln. Man muss immer eine große Menge an Dingen haben, die man für fest und garantiert hält, um an manchen Dingen dann auch zweifeln zu können.

Inwiefern ist Vertrauen auch wandelbar?

Es geschehen in der Gesellschaft Umwälzungen. Manchmal wird man auch relativ plötzlich mit Situationen konfrontiert, bei denen die Routinen von gestern nicht mehr greifen. Dann könnten sie mit besonderem Misstrauen und Verdächtigungen reagieren. Nehmen sie etwa das plötzliche Ende der DDR, über Nacht war vieles ungewohnt. Daraus entwickelte sich oft das Gefühl, dass etwas nicht nur anders, sondern dass es Schikane war. Man musste sich anpassen, auch wenn man das vielleicht gar nicht wollte. Das Resultat war, dass am Ende andere Routinen stehen.

Welche Routinen meinen Sie?

Es geht nicht um besser oder schlechter, sondern um gewohnt und ungewohnt. Ob sich etwas zum Besseren oder Schlechteren verändert, ist eine ganz andere Frage und hat nichts damit zu tun, ob eine Veränderung eine Anpassungsleistung erfordert. Das bedeutet eine andere Verteilung der Bereitschaft, Vertrauen zu schenken, oder genötigt zu sein zu misstrauen. Das sortiert sich um. Wenn man so will, ist die gesellschaftliche Evolution ein beständiges Umsortieren solcher Routinen.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Jan Philipp Reemtsma (58) ist Philologe und Literaturwissenschaftler. Der Tabak-Erbe sprach am Potsdamer Einstein Forum auf einer internationalen Tagung über das Vertrauen.

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