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Trauer. Eine Gedenktafel für die ermordeten Kinder Elias und Mohamed befindet sich in einer umgestalteten Parzelle einer Kleingartenanlage in Luckenwalde, wo der Mörder Elias’ Leiche vergraben hatte.

© dpa

Fälle Elias und Mohamed: 4. Verhandlungstag in Potsdam: Als Mohamed in der Kita sein sollte

Im Mordprozess gegen Silvio S. spricht die Mutter des vierjährigen Mohamed. Die Familie fordert Schmerzensgeld von dem Angeklagten.

Potsdam - Irgendwann platzt es aus Aldiana J. heraus, als sie im Mordprozess gegen Silvio S. vor dem Landgericht Potsdam als Zeugin aussagt. Sie wünsche sich, dass der Angeklagte den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringe – „oder er soll sich selbst das Leben nehmen“. Der Tod ihres Sohns habe sie „völlig kaputtgemacht“.

Der 33-Jährige Silvio S. hatte den damals vier Jahre alten Mohamed laut Anklage und nach eigenem Geständnis bei der Polizei am 1. Oktober 2015 am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführt, in seiner Wohnung im brandenburgischen Kaltenborn bei Jüterbog sexuell missbraucht und am nächsten Morgen aus Angst vor Entdeckung umgebracht. Er hat ihn erst gewürgt, als sich Mohamed danach regte, strangulierte er den kleinen Jungen. Der Angeklagte soll auch den sechsjährigen Elias aus Potsdam ermordet haben. Er hat dazu aber trotz mehrerer Appelle des Vorsitzenden Richters Theodor Horstkötter, dass die Mütter von Mohamed und Elias ein Recht darauf hätten, keine Angaben gemacht.

An diesem vierten Verhandlungstag, als die Schwurgerichtskammer die Umstände des Verschwindens von Mohamed ergründen will, sitzt auch Anita S., die Mutter von Elias, der im Juli 2015 spurlos im Potsdamer Stadtteil Schlaatz verschwand, im Gerichtssaal. Sie hatte bereits am ersten Verhandlungstag vor zwei Wochen ausgesagt. Nun war sie erstmals wieder im Prozess – um sich die Aussage der Mutter des anderen Opfers von Silvio S. anzuhören.

Roma-Familie flüchtete aus Bosnien-Herzegowina

Aldiana J. kam mit ihren beiden Kindern Mohamed und Medina Anfang 2014 nach Deutschland, die Roma-Familie war aus Bosnien-Herzegowina geflüchtet. Am 1. Oktober 2015, als der viereinhalbjährige Mohamed entführt wurde, standen sie früh auf, um zusammen mit einem Nachbarn ab 6 Uhr bei der überfüllten Flüchtlingsregistrierung beim Lageso ihr Geld abzuholen. Ebenso mit dabei war Baby Kevin, das die 29-jährige Aldiana mit ihrem rumänischen Lebenspartner in Deutschland bekommen hatte.

Mit diesem habe der etwa ein Meter große Mohamed zunächst gespielt, nachdem er zuvor wegen Hungers geweint hatte und ein Brötchen bekam. Sie habe sich auf Mohamed verlassen, auch wenn er zwischenzeitlich aus ihrem Blickfeld spazierte. „Er ist immer zurückgekommen“, sagte sie vor Gericht. Streit habe es mit seiner Schwester gegeben, Mohamed wollte sie beißen, übersetzt ein Dolmetscher ihre Aussage. Mohamed habe seinen Namen schon sagen können. Zwar habe er auch manchmal geweint, sei aber ein fröhliches Kind gewesen. Mit Erwachsenen habe er nur gespielt, wenn er sie kannte.

Mit einem Kind an der Hand

Um 14.20 Uhr war sie bei ihrem Sachbearbeiter im Lageso fertig und konnte ihr Geld abholen. So hat es ein Beamter des LKA Berlin herausgefunden. Auf Aufnahmen der Überwachungskameras, so verlas es Richter Horstkötter, ist im gleichen Zeitraum eine Person zu sehen, die die Ermittler für Silvio S. halten. Damals trug er weite Kleidung, war fülliger als heute, hatte eine Plastiktüte dabei. Um 13.39 Uhr kam er auf das Lageso-Gelände, um 14.40 Uhr ist er wieder zu sehen, diesmal mit einem Kind an der Hand.

Aldiana J. berichtet, Mohamed sei auf einmal weg gewesen, gerade als sie den Behördengang erledigt hatte. Zunächst habe Medina nach Mohamed gesucht, doch erfolglos. „Auch im Flüchtlingskindergarten vor Ort sei Mohamed nicht gewesen. Schließlich hätte sie zusammen mit Wachleuten und Helfern gesucht. Gegen 16 Uhr sei die Polizei eingeschaltet worden. Später habe sie auf Bildern von Überwachungskameras ihr Kind an der Seite von S. eindeutig erkannt.

Schon zu Beginn ihrer Aussage erklärte die Mutter, sie hätte sich gewünscht, Silvio S. niemals sehen zu müssen. Es gehe ihr nicht in den Kopf, sagte sie mehrmals, wie man ein fremdes Kind einfach mitnehmen und ihm eine solche Falle stelle könne. Der Angeklagte verfolgte die Aussage mit gesenktem Kopf, zum Teil mit geschlossenen Augen, die er sich mehrfach auch rieb.

Ein unbeschreiblich großer Schock für die Mutter

Mohameds Mutter hat seit der Nachricht vom grausamen Tod ihres Sohnes und wegen des seelischen Stresses zwei Fehlgeburten erlitten, wie sie vor Gericht aussagte. Sieben Tage nach der Beisetzung ihres Kindes im vergangenen November habe sie die erste Fehlgeburt erlitten, musste deshalb ins Krankenhaus. Bis heute habe sie ein weiteres Kind in der Schwangerschaft verloren. Nach der Nachricht vom Tod ihres Sohnes habe sie unter Schock gestanden und in einem Krankenhaus behandelt werden müssen. Ihr Dolmetscher übersetzte: „Ich war schwanger im dritten Monat.“ Und: „Es war ein unbeschreiblich großer Schock für mich. Ich konnte nicht schlafen, monatelang. Auch meine Tochter leidet unter Schlaflosigkeit. Den Stress werden wir einfach nicht los. Ich habe meine Nerven verloren und bin deshalb in Therapie.“

Eigentlich wäre Mohamed an diesem Morgen des 1. Oktober nie am Lageso gewesen, wäre alles so gelaufen, wie es laufen sollte. Erst seit ein paar Wochen hatte er einen Platz im Kindergarten. Dort hätte er auch an diesem Tag sein sollen, seine Schwester in der Schule, berichtete eine Familienhelferin. Doch Aldiana J. hatte Schwierigkeiten mit den Regeln und Uhrzeiten, auch damit, ihren Kindern Regeln beizubringen. „Sie war total überfordert“, berichtet eine Sozialarbeiterin. An diesem Donnerstag hätte Aldiana J. – so war es vom Helferteam vorgesehen – allein zum Lageso gehen sollen.

Mohamed würde mit Fremden mitgehen, wann man ihm Süßes oder ein Kuscheltier schenkt

Eine andere Familienhelferin und ein Freund der Familie schildern Mohamed als neugierig, kaum ängstlich, etwas hyperaktiv. Ein Junge, der von seiner Mutter geliebt, aber nicht erzogen wurde, der keine Grenzen gesetzt bekam, kein Spielzeug hatte. Weil es nun mal so sei in den Roma-Familien, wie eine Helferin entschuldigend sagte, dass die Kinder sich selbst und gegenseitig großziehen. Sie charakterisierten Mohamed als einen Jungen, der zutraulich war oder sogar mit Fremden mitgehen würde, wenn man ihm Süßes schenkt – oder ein Kuscheltier, so wie es nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auch Silvio S. getan hat.

Eine Familienhelferin will Mohamed an der Hand von Silvio S. auf den Videos der Überwachungskameras am Lageso später auch erkannt haben. Und sie stellte Ähnlichkeiten fest mit jenem Mann, der ihr in den Wochen zuvor auf dem Lageso-Gelände aufgefallen war. „Diese Person hat sich auffällig verhalten. Wie jemand rumläuft, merkt man sich und achtet darauf. Ich hatte ein ungutes Gefühl“, sagte die Familienhelferin. „Er stand in den Ecken und hat beobachtet. Das war für mich der Moment, in dem ich dachte, ich muss jetzt hier aufpassen.“

Auch die Schwester von Mohamed, die neunjährige Medina, wurde vom Gericht vernommen. Der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer, Theodor Horstkötter, befragte die Schwester äußerst behut- und einfühlsam. Medina erzählte vom frühen Aufstehen, wie sie am Lageso warteten, sich stritten, dass Mohamed geweint hat, weil sie seinen Versuch abgewehrt hat, sie zu beißen. Wie er mit einem anderen Kind spielte. Und er habe sein Lieblingsspielzeug dabeigehabt: eine Piraten-Augenklappe. Dann war er weg. Mit einem Erwachsenen hat Medina ihren Bruder zuvor aber nicht gesehen.

Schmerzensgeld für die Familie?

Als der Richter fragte, ob Mohamed grundsätzlich Angst gehabt habe, im Dunkeln oder allein, sagte Medina, sie müsse kurz überlegen. Aber nein, Mohamed habe keine Angst gehabt, auch nicht vor Fremden. Im Asylheim hätten sie viele Nachbarn gehabt. Wenn er mit Erwachsenen mitgegangen sei oder allein, sei er immer wiedergekommen. Am Ende der Befragung sagte Richter Horstkötter: „Das hast du super gemacht.“ Das Mädchen wurde auch noch vom Nebenklageanwalt ihrer Mutter befragt. Es ging um einen Schmerzensgeldantrag für die Folgen des Mordes für die Familie. Medina geht inzwischen wieder zur Schule, doch über die Wochen seit Mohameds Verschwinden und erst recht seit der Nachricht von seinem Tod sagte sie nun: „Es war eine schwere Zeit.“ Und sie schilderte: „Ich musste ständig daran denken, dass mein Bruder nicht mehr bei uns ist. Ich konnte nicht schlafen. Ich habe immer noch Angst.“ Nach einer halben Stunde hatte die Neunjährige die Befragung hinter sich gebracht. Richter Horstkötter lächelte das Kind freundlich an und sagte: „Und ihr passt jetzt gut aufeinander auf, versprochen?“ Medina nickte, ihr Ja war kaum zu hören.

Grund für die Fragen des Anwalts: Andreas Schulz, Anwalt von Mohameds Familie, will erreichen, dass Silvio S. Schmerzensgeld für die Leiden des Vierjährigen in den Minuten vor seinem Tod zahlen muss – mindestens 50 000 Euro wollen sie beantragen. Über den zivilrechtlichen Anspruch müsste dann das Gericht im Zuge der Verurteilung von Silvio S. befinden, sagte Schulz den PNN am Rande des Prozesses. Daneben will Schulz vom Landgericht einen Schadenersatzspruch für künftige Schäden bei Mohameds Schwester, der neunjährigen Medina, feststellen lassen. Bei einem entsprechenden Beschluss hätte sie 30 Jahre lang Anspruch auf Schadenersatz durch Silvio S. Anwalt Schulz ist aber auch bewusst, dass bei Silvio S. nicht viel zu holen ist. Ihm gehöre zur Hälfte das Haus, in dem er mit seinen Eltern im Dorf Kaltenborn lebte. Dies sei jedoch nicht abgezahlt. Außerdem müsste er bei einer Verurteilung die Kosten des Verfahrens tragen – für Anwälte, Gutachten. Es dürften hohe Summen sein.

Die Mutter von Elias hörte sich die Aussage der Mutter von Mohamed bis zum Ende an. Als Aldiana J. fertig war und sich wieder auf die Bank der Nebenklage setzte, verließ sie den Verhandlungssaal.

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