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Sexualisierte Gewalt. Das neue Gesetz gegen Missbrauch hat enorme Tücken.

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Experten befürchten weniger Schutz für Kinder: Was taugt das neue Gesetz gegen Missbrauch?

Die Bundesregierung will den Kampf gegen Missbrauch erleichtern. Ein neues Gesetz aber entsetzt Experten: „Viele Täter könnten ungeschoren davonkommen.“

Es war ein ungleiches Paar. Ein 21-Jähriger hatte sich in eine 13-Jährige verliebt. Kurz vor ihrem 14. Geburtstag küssten sie sich, ein Zungenkuss. Für die beiden mag es romantisch gewesen sein, für die Justiz war es eine Straftat. Ein Vergehen, ein Fall sexuellen Missbrauchs. Der 21-Jährige wurde verwarnt. In Zukunft wäre dieser Zungenkuss ein Verbrechen, Mindeststrafe: ein Jahr Freiheitsstrafe.

Unangemessen? Diese Strafe sieht der Entwurf des neuen „Gesetzes zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ vor, das im parlamentarischen Verfahren ist. Am 7. Dezember diskutiert der Rechtsausschuss des Bundestags darüber.

Der Gesetzentwurf wurde im Sommer formuliert, als Öffentlichkeit und Politik unter dem Eindruck der schweren Missbrauchsfälle in Bergisch Gladbach und Münster standen. Im Oktober stimmte die Bundesregierung dem Gesetzentwurf zu. Möglichst harte Strafen für Kinderschänder, das war der Vorsatz.

Alle Parteien forderten eine Verschärfung des Gesetzes. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht lehnte eine massive Reform erst einmal ab, knickte dann unter öffentlichem Druck ein. Im Oktober stimmte die Bundesregierung dem Gesetz zu. Das war ein Fehler mit möglicherweise fatalen Folgen.

Missbrauchsbeauftragter sieht „veritable Probleme“

Denn Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, sagt: „Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch.“ Direkter gesagt: Dem Kampf gegen Missbrauch droht ein erheblicher Rückschlag. Viele Täter könnten ungeschoren davonkommen.

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Der entscheidende Punkt lautet: Weniger schwerwiegende Fälle sind kein Vergehen mehr, nach dem neuen Gesetz wird jede sexuelle Handlung mit Körperkontakt als Verbrechen eingestuft. „Man ist hier vielleicht zu schnell populistischen Forderungen gefolgt“, sagt Rörig. „Das Strafrecht als schärfstes Schwert des Staates wird dann bei bestimmten Taten unverhältnismäßig eingesetzt.“

Rörig, selbst jahrelang als Richter tätig, begrüßt, dass bestimmte Taten zum Verbrechen hochgestuft werden, etwa die Manipulation eines Geschlechtsteils. „Aber wenn der Zungenkuss mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen gilt, kommen wir in Bereiche, die ich schwierig finde.“

Es soll keine Strafbefehle mehr geben, eine fatale Entscheidung

Die Schwierigkeiten nehmen noch ganz andere Ausmaße an. Denn nach dem Gesetzentwurf wird es keine Strafbefehle mehr geben. Mit denen können bisher weniger schwere Taten ohne Verhandlung geahndet werden, zumindest wenn gegen den Strafbefehl kein Einspruch eingelegt wird. Strafbefehle besitzen aber gerade bei Missbrauchsfällen eine enorme Bedeutung.

Oft ist die Beweislage unsicher, weil es nur die Aussage des Opfers gibt. Dann bietet ein Staatsanwalt in geeigneten Fällen einem Verteidiger einen Strafbefehl an, eine Art juristischen Kompromiss. Daraufhin folge oft ein Geständnis, sagt Rörig. „Viele Angeklagte nehmen einen Strafbefehl an, um so einer öffentlichen Verhandlung zu entgehen. Den Betroffenen erspart man gleichzeitig einen Prozess mit unsicherem Ausgang.“

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Ohne Strafbefehl aber setzt sich bei unklarer Beweislage eine in vielen Fällen fatale Kettenreaktion in Gang. Eine Staatsanwältin, befasst mit Jugendsexualstrafrecht, beschreibt sie: Der Angeklagte müsse vor Gericht, der Verteidiger rate ihm, schon im Ermittlungsverfahren zu schweigen, Opfer müssten immer zu einer richterlichen Videovernehmung oder sogar im Gericht aussagen, Anwälte würden „das Verfahren in die Länge ziehen“.

Da im Zweifel zugunsten des Angeklagten geurteilt werden muss, kann es sogar zum Freispruch kommen. „Katastrophal für viele Betroffene“, sagt die Anklägerin.

Für Rörig führt das neue Gesetz zu einer „paradoxen Situation“

Für Rörig führt das neue Gesetz zu einer „paradoxen Situation“. Denn bei den schweren Fällen, die ja erst den Ausschlag für die Gesetzesänderung gegeben haben, handele es sich nach aktuellem Gesetz um Verbrechen. Teilweise hätten die Täter schon Höchststrafen erhalten. „Da hatte der Rechtsstaat bereits so reagiert, wie Politiker das fordern.“

Deshalb sagt Rörig auch: „Man muss einem Gericht die Möglichkeit geben, den Unrechtsgehalt differenziert zu bewerten und die Strafe entsprechend zu verhängen.“ Auch hochrangige Richter, Ermittler, Staatsanwälte sowie Experten der Kinderschutzszene schütteln entsetzt den Kopf.

[Lesen Sie mit Tagesspiegel-Plus: Ein Interview mit Johannes-Wilhelm Rörig - „Man muss bei der Angst der Täter ansetzen“]

Ihre Bedenken basieren noch auf weiteren Punkten. „Diverse Anklagen werden dann erst gar nicht erhoben, weil die Staatsanwaltschaft abschätzen muss, wie groß die Chancen auf eine Verurteilung sind“, sagt Rörig. Gut möglich, dass ein Verfahren wegen unsicherer Beweislage im Zweifel eher eingestellt als weiterverfolgt werde. Und dass ausgerechnet komplizierte Fälle mit großer Verzögerung vor Gericht kommen.

„Die Staatsanwaltschaft wird daran gemessen, wie viele Verfahren sie abarbeitet, egal ob einfache oder zeitraubende“, sagt die Staatsanwältin. „Angesichts der immens hohen Belastung, die durch die Reform noch ansteigen wird, ist absehbar, dass der eine oder andere lieber leichte Fälle erledigt als zeitraubende.“ Immerhin, es ist laut Entwurf noch möglich, von Strafe abzusehen, wenn Kind und Täter in Alter und Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich geschieht. Rörig begrüßt „diese Regelung sehr“.

Die Gerichte sind schon jetzt überlastet

Das ändert aber nichts an einem weiteren Problem. „Schöffengerichte und Landgerichte sind schon jetzt überlastet“, sagt Rörig. „Die Länder müssen also dringend ihr Personal in der Justiz ausbauen. Sie können schon mit dem Ausschreibung für neue Richterinnen, Richter und Staatsanwaltschaften beginnen.“

Dem Bundesjustizministerium sind Rörigs Kritikpunkte bekannt. Der Missbrauchsbeauftragte hatte sie schon im Sommer beim Dialogverfahren mit Justizministerin Lambrecht vorgetragen. Ob sich etwas ändert, ist die andere Frage. Der 21-Jährige und die 13-Jährige sind im Übrigen nach ihrem Kuss noch zweieinhalb Jahre zusammengeblieben.

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