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Gerechtigkeit in Pandemiezeiten ist schwierig. Hier ein Bild des Thüringer Verfassungsgerichtshofs.

© Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Justiz und Corona: Recht kann stärker werden, wenn man es überfordert

Von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bis zur Pandemiepolitik - auch wenn zunächst Gesetze fehlen, verbreitet sich das Recht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Als am 20. November vor 75 Jahren in Nürnberg der Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ Göring, Heß, Keitel & Co begann, gab es Zweifel, ob die justizförmige Bewältigung der wohl schlimmsten Untat der Menschheitsgeschichte gelingen könnte. Ein Kriegsrecht gab es, aber keines, das solche Verbrechen einer Kriegspartei sühnen könnte. Und war es nicht so, dass der (rechtsstaatliche) Grundsatz weitergelten sollte, wonach eine Tat nur bestraft werden darf, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Begehung ausdrücklich verboten war? Wie also Verbrecher bestrafen, die Mord zu Recht und Gesetz erklärt hatten?

Die Antwort der Alliierten war das Londoner Statut, das erstmals Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als strafbar kodifizierte. Die Alliierten antworteten damit auch auf den Vorwurf, rückwirkend zu sanktionieren: Die Nazis haben sich kein Recht auf Unrecht erschaffen, sondern sie haben sich mit ihren Gesetzen und Taten vom Recht abgewandt. So wurde das Londoner Statut zum Fundament des Römischen Statuts, mit dem über 50 Jahre später der Internationale Strafgerichtshof ins Leben gerufen wurde. Nürnberg war keine Siegerjustiz; es war ein Sieg der Justiz.

Es kann faszinieren, wie Recht auf vermeintliche Überforderung reagiert. Sie stärkt es. So war es auch im Umgang mit dem DDR-Unrecht, der die Nürnberger Maßstäbe aufnahm und auf Mauerschützen und ihre Befehlsgeber konkretisierte. Auch hier hatte es Zweifel gegeben, ob Recht noch Recht bleibt. Die maßvollen Urteile bestätigten es aber. Sie sind nicht überheblich, sie sind glaubwürdig. Sie bilden einen wichtigen Beitrag zur Einheit.

Das Grundgesetz wurde noch nie von einem Virus auf die Probe gestellt

Auch die Pandemie überfordert das Recht. Das Infektionsschutzgesetz war nur für regionale Ausbrüche gedacht. Die Versammlungsfreiheit wurde oft auf die Probe gestellt, aber noch nie von einem Virus. Gleiches gilt für das Grundrecht auf Eigentum, Wirtschaft und Geschäfte, das schon manche Krisen durchlitt, aber noch nie einen Lockdown. Statt auf Grundlage stabiler Gesetze agiert die Exekutive mit Verordnungen. Eilige Bund-Länder-Konferenzen, deren Protokolle kaum jemand kennt, ersetzen Parlamentsdebatten. Gerichte prüfen die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen mitten in Verhältnissen, die sie kaum kennen und schon gar nicht überblicken können.

Immerhin, der Bundestag hat jetzt einiges nachgeholt und differenziertere Befugnisse geschaffen. Aber das Recht wurde trotzdem kalt erwischt. Wie die Politik, die trotz Warnungen von Fachleuten nie für so einen Fall vorgebaut hatte. Man wird nun klüger werden. Möglicherweise werden noch weitere Gesetze erlassen. Nach ihren Eilverfahren werden die Gerichte Urteile fällen, die sich gründlich mit der Materie beschäftigen. Vermutlich auch das Bundesverfassungsgericht. Mit dem neuen Recht werden neue Perspektiven entstehen. Das Recht wird das Virus bewältigen. Es wird stärker. Seine Verbreitung ist nicht aufzuhalten.

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