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Bundeskanzlerin Angela Merkel braucht die Unterstützung der anderen EU-Länder.

© LAURENT DUBRULE/dpa

Flüchtlingspolitik: Merkels Schwäche ist eine Chance für Europa

Die Flüchtlingsdebatte hat die Machtverhältnisse in der EU verändert: Angela Merkel braucht jetzt die Hilfe der anderen Staaten. Damit kommt Europa wieder in die Balance. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Der Höhepunkt des jüngsten deutschen Größenwahns war Anfang Dezember erreicht. Damals begründete Angela Merkel auf dem CDU- Parteitag ihre Flüchtlingspolitik damit, dass es „zur Identität unseres Landes gehört, Größtes zu leisten“. Es war dieselbe Merkel, die gerade von „Time“ zur Person des Jahres erklärt worden war und die zwischen Putin-Zähmung und Griechen-Rettung auch den Brexit, den Ausstieg der Briten aus der EU, verhindern sollte. Und es war die Merkel, die kurz darauf vom italienischen Premier zu hören bekam: „Europa muss 28 Ländern dienen, nicht nur einem.“ So groß war eben noch die Macht Deutschlands, und so groß war der Unmut darüber in Europa.

Es ist also kein Wunder, dass Merkels Versuch, ein Problem, das sie nationalisiert hat, wieder zu europäisieren, nicht vorankommt. Die Polen und Briten, die Franzosen und Holländer wissen schließlich noch sehr gut, was passiert, wenn Deutsche versuchen, Größtes zu leisten. Und bei den Griechen braucht Merkel, nach all dem, was im vergangenen Jahr passiert ist, gar nicht erst anzuklopfen.

Von der Person des Jahres zur Bittstellerin

Der deutsche Umgang mit der Flüchtlingskrise hat die Machtverhältnisse in Europa verändert. Die deutsche Kanzlerin ist plötzlich darauf angewiesen, dass ihr andere helfen. In dramatischen vier Wochen ist aus der Person des Jahres die Bittstellerin des Jahres geworden, die, um politisch zu überleben, auf die Hilfe der Europäer, der Türken, der Amerikaner angewiesen ist.

Diese Machtverschiebung ist eine Gefahr für Merkel, aber ein Vorteil für Europa. Die Idee, Deutschland könne die Rolle des gutmütigen Hegemonen spielen, hatte sich schon in der Griechenlandkrise als falsch erwiesen: Die Ressentiments waren am Ende zu stark. In der Flüchtlingskrise ist die Schwäche vollends deutlich geworden. Es geht für die übrigen Regierungschefs inzwischen gar nicht mehr um Merkels Flüchtlingspolitik, die die meisten ohnehin für falsch halten, sondern um die Vor- und Nachteile, die ihnen aus einer weiteren Schwächung der deutschen Kanzlerin erwachsen. Angela Merkel hat ihr politisches Schicksal in fremde Hände gelegt.

Ein schwieriger Balanceakt

Die Europäische Union ist, das ist zu Recht zu beklagen, eine Gemeinschaft, die Ungleichheit schlecht erträgt und sich deshalb am ehesten auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner trifft. Deutschland hat sich politisch nun so geschwächt, dass seine Führung auf europäischer Ebene zurückkehren muss in das Geschäft der gegenseitigen Abhängigkeiten und politischen Erpressungen.

Das Ziel, Europa stark zu machen, gerät damit zwar weiter aus den Augen, dafür nähert sich Deutschland wieder der europäischen Augenhöhe an. Die deutsche Stärke hat die europäischen Fliehkräfte lange verstärkt. Und während Europa mit einem durch seine Flüchtlingspolitik geschwächten Deutschland möglicherweise wieder ausgeglichener und sogar einträchtiger agieren kann, muss auch umgekehrt die Machtbalance gewahrt bleiben: Ein vorgeführtes Deutschland würde die Absetzbewegungen innerhalb Europas wieder verstärken.

Bei den Verhandlungen der Kanzlerin geht es in Wahrheit also nicht um eine Lösung der Flüchtlingskrise, um Endgültiges zu Zahlen und Grenzen. Dazu bleiben die Positionen zu unterschiedlich. Zur Debatte steht längst nicht mehr das Größte, sondern das Grundsätzlichste: der politische Zusammenhalt Europas.

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