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Politik: Land zurück

URTEIL ZU ENTEIGNUNGEN

Von Matthias Schlegel

Sichtlich gerührt hielt Werner Döring aus Aschersleben gestern die „Besitzeinweisungsurkunde“ in die Kameras. Darin war seinen Eltern im Jahr 1945 ein Stück Land zugesprochen worden – Bodenreformland. Fast 50 Jahre später wurde ihm das Fleckchen wieder abgenommen. Nicht von einem diktatorischen Regime, sondern kraft eines bundesdeutschen Gesetzes von 1992. Das geerbte Bodenreformland sei kein vollwertiges Eigentum, hieß es. Döring wurde aufgefordert, das Land entschädigungslos an den Fiskus zu übereignen.

Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg geurteilt, dass der deutsche Staat unrecht gehandelt hat. Die Enteignung „ohne jede Entschädigung“ sei „unverhältnismäßig“ gewesen. Sollte das Urteil nach einem möglichen Einspruch der Bundesrepublik auch vor dem Großen Senat des Gerichts bestehen, müssen rund 70 000 Fälle, in denen Eigentum entzogen wurde, wieder aufgerollt werden. Es müsste dann eine Entschädigung in Form der Rückgabe des Landes oder ein finanzieller Ausgleich erfolgen. Die Bundesrepublik hat in Straßburg eine empfindliche Schlappe erlitten. Seit Jahren bemühten die Bodenreform-Erben erfolglos deutsche Gerichte, um ihre Enteignungen anzufechten. Nun ist ein Urteil auf europäischer Ebene ergangen, das den schrillen Beiklang hat, die Bundesrepublik missachte grundlegende Rechte, nämlich Eigentumsrechte, ihrer Bürger.

Der gesamte Vorgang offenbart, dass die bundesdeutsche Gesetzgebung mit ihrem Bemühen, Rechtsgrundlagen aus DDR-Zeiten, vor allem auch späte Entscheidungen der Modrow-Regierung, zugunsten vermeintlicher rechtsstaatlicher Prinzipien aufzubessern, nicht immer eine glückliche Hand hatte. Im Falle des Bodenreform-Eigentums war die Intention sowohl der Runden Tische als auch der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière stets, die Eigentümer von Bodenreformland und deren Erben zu schützen. Als vermeintliche Gefahr wurden allerdings immer die einstigen Alteigentümer ausgemacht. Sie waren in der DDR über Jahrzehnte als ehemalige „Großgrundbesitzer“ ideologisch diskreditiert worden. Dass zwei Jahre nach der deutschen Einheit aber die Bundesrepublik nach dem Eigentum jener Erben von Kleinbauern greifen würde, die diesen Boden nicht selbst bewirtschafteten, das hatten auch Modrow und de Maizière nicht voraussehen können.

Im Gegenteil: Heute berufen sich jene DDR-Regierungsmitglieder, die 1990 die Vollwertigkeit des Bodenreformeigentums noch einmal gesetzlich verbrieft hatten, darauf, dass sie damit gerade der Forderung der bundesdeutschen Seite nachgekommen seien, im Osten Deutschlands klare marktwirtschaftliche Eigentumsstrukturen zu schaffen. Aber auch daraus, dass das nur die Hälfte der Wahrheit ist, machen sie keinen Hehl. Denn natürlich sollte damit auch ein Schlussstrich unter die Enteignungen von 1945 bis 1949 und die Ergebnisse der Bodenreform gezogen werden.

Ob bewusst oder unbewusst – das Straßburger Gericht hat mit seinem Urteil zugunsten der Bodenreform-Erben diese Intentionen gestärkt. Das dürfte eine unangenehme Wahrheit für manche Alteigentümer sein, die zwischen 1945 und 1949 enteignet wurden und seit Jahren den im Einigungsvertrag verankerten Restitutionsausschluss anfechten. Andererseits könnte ihnen das Urteil vom Donnerstag auch Auftrieb geben: Sind doch bei den EU-Richtern noch Beschwerden anhängig, in denen Alteigentümer beklagen, die ihnen gezahlten Entschädigungen seien zu gering gewesen. In einer Woche wird in Straßburg erneut deutsche Geschichte verhandelt.

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