zum Hauptinhalt
Gute Laune, trotz Krise: Christian Lindner, Olaf Scholz und Robert Habeck in Meseberg.

© IMAGO/Political-Moments

Ampel-Harmonie im Schloss: Habeck verteidigt Scholz, Lindner will plötzlich „wuchtige“ Entlastungen

Nach viel Dissens will die Ampel die Kurve bekommen und schnürt ein großes Paket. Die Klausur bietet Überraschungen und neue Töne. Eine Analyse aus Meseberg.

Aus der Grünen-Fraktionsspitze werde dem Kanzler ja vorgeworfen, er zeige eine schlechte Performance, habe miese Umfragewerte und Erinnerungslücken in der Hamburger Warburg-Affäre. Was er denn dazu zu sagen habe, wird Olaf Scholz gefragt. Bevor der Kanzler das Wort ergreifen kann, macht das Robert Habeck, der bei der Abschlusspressekonferenz zur Kabinettsklausur in Schloss Meseberg zu seiner Linken steht.

Und als hätte es keine vorangegangenen Angriffe aus der SPD gegen den Umfrageliebling Habeck gegeben, stellt sich der Vizekanzler vor den Kanzler.

Diese Klausur habe noch einmal mehr gezeigt, und er glaube hier für das gesamte Kabinett zu sprechen, „wie gut es ist, dass Olaf Scholz diese Regierung führt“. Und weiter betont Habeck: „Mit seiner Erfahrung, mit seiner Umsicht, mit seiner Ruhe führt er dieses Land sicher durch – und ich bin froh, dass es genauso ist.“

Er stellt die oben angeführte Aussage des stellvertretenden Grünen-Fraktionsvorsitzenden Konstantin von Notz als Einzelmeinung dar. Meseberg soll nach Wochen der Turbulenzen und Misstöne einen Neustart bilden.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Aber Habeck, der einen schwarzen Anzug trägt, ist es auch, der einen Moment innehält und trauert. Nach der Nachricht vom Tod Michail Gorbatschows hat das Kabinett auch die Nachricht vom Tod des Grünen-Originals Hans-Christian Ströbele erreicht. Ströbele sei ein Politiker gewesen, „der vielen Menschen imponiert hat – mir auch – wegen seiner Geradlinigkeit, seinem unverrücklichen Einsatz für Bürgerrechte, für soziale Politik“, sagt Habeck.

Lindner schlägt neue Töne an

Aber diese Tage sind für die Koalitionäre Tage des Dauerdrucks, für innerliche Einkehr bleibt da kaum Zeit. Immerhin soll es abends beim Grillen etwas länger gegangen sein, bis nach eins. Scholz betont: „Die Regierung arbeitet sehr gut zusammen, wie man hier in Meseberg sinnlich erfahren konnte.“ Was immer das heißen mag.

Was auffällt: Es ist besonders Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner, der an diesem Tag im Schlossgarten Botschaften setzt, die als Entgegenkommen an SPD und Grüne zu werten sind. Auch er will nun eher mit „Wumms“ der kriegsbedingten Krise begegnen.

Die Sonne scheint, das weiße Barockschloss strahlt – es kostet die Bundesregierung trotz geringer Nutzung über fünf Millionen Euro im Jahr, für Unterhalt und Bewachung. Immer wieder spricht Scholz vom Unterhaken – zwischen den Zeilen lichtet sich mancher Nebel im Schlossgarten, es zeichnet sich vor allem ein drittes Entlastungspaket in hoher zweistelliger Milliardenhöhe ab. Es könnte das Volumen der ersten beiden Pakete mit einem Gesamtvolumen von 30 Milliarden übertreffen.

[Der Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leserinnen und Leser informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]

Das Ringen um das Entlastungspaket III

Es gehört zum Politikstil des Kanzlers, keine Zwischenstände zu kommunizieren, sondern erst, wenn alles fest verabredet ist. Daher sieht er die seit Wochen laufenden Verhandlungen als Lackmustest, ob die Vertraulichkeit hält, die die Ampel in der Startphase ausgezeichnet hat. Am Samstag oder Sonntag soll es im Kanzleramt einen Koalitionsausschuss geben, wo das Gesamtpaket geschnürt werden soll, Scholz vergleicht es mit einem Hausbau.

Er will es unbedingt vorliegen haben zur Generalaussprache über den Kanzleretat 2023 am kommenden Mittwoch im Bundestag, um sich nicht von CDU-Fraktionschef Friedrich Merz vorführen zu lassen. Eine deutliche Ausweitung des Wohngelds mit weit mehr Empfängern ist eine gesetzte Säule, für Hartz-IV-Empfänger soll das neue Bürgergeld kommen, mit höheren Sätzen als bisher.

Eine Energiepreisbremse scheint zu kompliziert

Habeck betont, geprüft werde auch der Vorschlag, dass ein bestimmter Energieverbrauch bei Haushalten staatlich verbilligt wird, zum Beispiel 80 Prozent des bisherigen Verbrauchs und nur der Verbrauch darüber dann mit den aktuell enorm hohen Preisen belegt wird – das würde auch das Energiesparen zusätzlich anreizen.

Aber wie lässt sich das sozial gerecht ausgestalten? Schließlich wissen Energieversorger nicht, wie die Vermögensverhältnisse eines Haushalts sind. „Und wie bürokratisch ist diese Maßnahme“, fragt Habeck und deutet damit an, dass dies zu kompliziert sein könnte.

Das dritte Entlastungspaket soll bald stehen - und die Ampel will wieder besser harmonieren.

© IMAGO/Political-Moments

Klar ist hingegen, dass es den von Finanzminister Christian Lindner (FDP) versprochenen Ausgleich der Effekte der kalten Progression geben soll, ein Volumen von rund zehn Milliarden Euro hat die Maßnahme. Zudem sollen ähnlich wie in der Corona-Pandemie wieder Hilfs- und Kreditprogramme für die unter den hohen Gas- und Strompreisen leidenden Unternehmen aufgelegt werden.

Die Industrie fürchtet den Kahlschlag

Am Vortag hatte im Schloss vor allem auch BDI-Präsident Siegfried Russwurm Alarm geschlagen, betont: „Die Substanz der Industrie ist bedroht.“

Die Strompreise für 2023 seien aktuell auf mehr als 700 Euro pro Megawattstunde gestiegen – mehr als das 15-Fache des Preisniveaus der vergangenen Jahre“, warnte Russwurm. Der Gaspreis habe um tausend Prozent auf mehr als 300 Euro pro Megawattstunde zugelegt. Die Lage für viele Unternehmen sei toxisch, „nicht nur wegen des Gasmangels, sondern vor allem wegen der aberwitzigen Preissteigerungen.“

Der Gasverbrauch der Industrie habe im Juli um 21 Prozent unter dem des Vorjahresmonats gelegen. „Dahinter stehen oft keine Effizienzgewinne, sondern ein dramatischer Produktionsrückgang.“ Auch Vizekanzler Habeck warnte vor der Gefahr, dass es in bestimmten Branchen zu großen Verwerfungen kommen könnte.

Eine klare Ansage des Finanzministers

Der lange zurückhaltende Lindner sagt nun: „Wir brauchen ein wuchtiges Paket für Entlastungen in der ganzen Breite der Gesellschaft.“ Dieses Jahr stünde im Haushalt noch ein einstelliger Milliardenbetrag zur Verfügung, kommendes Jahr ein zweistelliger – trotzdem können man wie geplant die Schuldenbremse einhalten.

Lindner lässt noch offen, ob sich die FDP zur Generierung zusätzlicher Finanzmittel öffnen könnte; zum Beispiel für Habecks Vorschlag, die vom Gaspreis getriebenen enorm hohen Zusatzgewinne im Strommarkt, abzuschöpfen. „Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Rendite-Autopilot abgeschaltet wird“, macht Lindner deutlich.

Worauf der FDP-Finanzminister abzielt: Zuletzt mussten teils über 1000 Euro für die Megawattstunde Strom gezahlt werden – weil alle Erzeuger den Preis bekommen, der für die teuersten Kraftwerke bezahlt wird, das sind derzeit Gaskraftwerke, die stärker als gewünscht laufen müssen, um Schwankungen bei der Ökoenergieerzeugung auszugleichen, aber auch um Frankreich wegen der dortigen Probleme mit den Atomkraftwerken mit ausreichend Strom zu beliefern. Dadurch machen Besitzer vor allem von Braunkohlekraftwerken, Solar- und Windenergieanlagen enorme Zusatzgewinne.

Das Kabinett im Schlossgarten von Meseberg.

© IMAGO/Chris Emil Janßen

Eine rasche Strommarkt-Reform soll kommen

Habeck will da ran, Lindner betont, es könne nicht sein, dass steigende Gaspreise automatisch zu Extra-Gewinnen bei den Strompreisen insgesamt führten. Scholz ergreift das Wort und unterstreicht, dass er da auch im Gespräch mit den EU-Staats- und Regierungschefs sei, eine EU-weite Reform werde viel schneller kommen, als viele denken würden.

Und er macht deutlich, dass durch die Folgen des russischen Angriffskriegs manches viel schneller kommen werde als geplant, von Flüssiggas-Terminals bis zum Ausbau Erneuerbarer Energien und der Umstellung auf eine stärkere Wasserstoffversorgung.

Bewegung bei Nachfolgelösung für 9-Euro-Ticket

Hier hat Lindner in Meseberg per Twitter einen neuen Ton gesetzt. Bisher war er gegen Folgeregelungen. Nun postet er am Morgen ein Selfie mit ihm und Verkehrsminister Volker Wissing, im Hintergrund das Schloss. „Volker Wissing hat mich überzeugt: Er kann mit einem Bruchteil der Finanzmittel des 9-EuroTicket-s ein bundesweit nutzbares, digital buchbares Ticket realisieren“, twittert Lindner. „Jetzt sind die Länder dran. Wenn die Finanzierungsfrage klar ist, kann der Preis festgelegt werden.“

Das bisherige 9-Euro-Ticket würde 14 Milliarden Euro im Jahr kosten – das ist Lindner viel zu viel. Wissing hat erklärt, er sei ein „Fan“ des Tickets und betont insbesondere die Überwindung der komplizierten Tarifstrukturen habe sich als Erfolg entpuppt.

Ein bundesweit gültiges Ticket für den Personennahverkehr hatte es zuvor nicht gegeben – wann und zu welchem Preis ein bundesweite Nah- und Regionalverkehrsticket kommen soll, lassen aber Lindner, Habeck und Scholz noch offen. Aber dass es kommt, wird wahrscheinlicher.

Die neue Bescheidenheit: Top 10 in Europa als Ziel bei Digitalisierung

In Sachen Digitalisierung ist die Regierung bescheiden geworden. „Wir wollen unter die Top-10 in Europa. Das ist unser Anspruch“, sagte Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing (FDP).

Dazu hat das Kabinett in Meseberg eine umfangreiche Digitalstrategie beschlossen. Lindner betont, es gehe um die flächendeckende Digitalisierung, vom Pass beantragen bis zur einfacheren Steuererklärung.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Wissing betont, man wolle nicht den Fehler früherer Regierungen machen, die davon geschwärmt hätten, „dass wir uns mit Flugtaxis im Alltag bewegen, aber vergessen haben, die Infrastruktur auszubauen“. Hier gelte es aufzuholen. Man wolle ein besseres Netz ausbauen, der Nutzung der digitalen Identität zur Durchsetzung verhelfen und mit einer Standardisierung eine bessere Nutzung der Daten ermöglichen, sagt Wissing.

Es ist sozusagen ein von der Ampel gewolltes Signal in Meseberg, nicht nur Krise, sondern sich auch mit der Zukunft beschäftigen. „Wir müssen diesen Winter überstehen als Land, als Gesellschaft als Ökonomie, um dann die Zukunft zu gestalten“, gibt Habeck als gemeinsame Devise aus. Man ist bemüht, nach schwierigen Tagen wieder mehr als Fortschrittskoalition zu erscheinen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false