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Ngozi Okonjo-Iweala, Generaldirektorin der Welthandelsorganisation (WTO), spricht bei einer Pressekonferenz nach Abschluss der 12. Ministerkonferenz (MC12) am Sitz der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf.

© dpa

WTO-Beschluss zu Impfpatenten: Ein Kompromiss, der niemandem nutzt

Sowohl die Pharmaindustrie als auch Hilfsorganisationen sind unzufrieden: Der WTO-Beschluss zu Corona-Impfpatenten muss als misslungen gelten. Ein Kommentar.

Am Freitagmorgen, anderthalb Stunden vor Sonnenaufgang, startete die letzte Verhandlungsrunde der Welthandelsorganisation. Ermüdet und erschöpft segneten die Handelsdiplomaten die Beschlüsse der 12. WTO-Ministerkonferenz ab – und beklatschten sich schließlich selbst. Auf der ersten WTO-Ministerkonferenz seit 2018 einigten sich die oftmals zerstrittenen Mitglieder auf eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Impfstoffe und das Streichen schädlicher Fischereisubventionen. Zudem will sich die WTO angesichts drohender Hungersnöte stärker für die Ernährungssicherheit einsetzen. Der indische Wirtschaftsminister Shri Piyush Goyal sah schon am Donnerstag einen Grund „zum Feiern“. Doch gerade der Beschluss zu den Patenten auf Covid-19-Vakzine zeigt, dass die Mitglieder den großen Wurf nicht wagten. Vielmehr produzierten sie einen Formelkompromiss, der niemandem nutzen wird und der auch keine Feierlaune verbreiten dürfte. Ursprünglich hatten Indien und Südafrika im Oktober 2020 einen Antrag zu den Covid-19-Patenten eingereicht, worauf die EU, Deutschland, die USA, Großbritannien und die Schweiz zunächst zähen Widerstand leisteten. Die seit mehr als einem Jahr amtierende WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala trieb die Delegationen immer wieder an „zu liefern“. Die Nigerianerin wollte tunlichst vermeiden, nach ihrem ersten WTO-Gipfel mit leeren Händen dazustehen.

"Impfstoffe haben bereits an Bedeutung verloren"

Konkret sollen laut WTO-Beschluss Unternehmen aus bestimmten Entwicklungsländern diejenigen Patente nutzen dürfen, die für die Herstellung und Lieferung von Covid-19-Impfstoffen erforderlich sind. Und zwar „ohne die Zustimmung des Rechteinhabers“ einzuholen. Unternehmen aus armen Regionen wie Afrika können die Patente nutzen, um eine Vakzin-Massenproduktion anzukurbeln. Diese Regelung soll bis zu fünf Jahre gelten.

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Doch das Konzept erweist sich als „unausgegoren“, wie selbst der indische Minister Goyal während der Verhandlungen sagte: „Impfstoffe haben bereits an Bedeutung verloren, es gibt keine Nachfrage mehr nach Impfstoffen.“ Das mag zwar übertrieben sein. Aber tatsächlich produzieren Pharmafirmen wie Biontech nach Angaben des internationalen Branchenverbandes IFPMA schon weit mehr als nötig. „Sie könnten in diesem Jahr mindestens 20 Milliarden Impfdosen herstellen, während der Bedarf wahrscheinlich bei etwa 6 Milliarden liegt“, erklärte IFPMA-Generaldirektor Thomas Cueni. Er gibt sich „tief enttäuscht“ über den WTO-Beschluss, der die Innovationskräfte in den Firmen und den Forscherdrang in der Wissenschaft gefährde.

Hilfsorganisationen äußern sich frustriert

Doch auch Hilfsorganisationen äußern sich frustriert über den „faulen Kompromiss“ – selbstredend aus anderen Gründen als Vertreter der Pharmabranche. Die Helfer kritisieren vor allem, dass der Beschluss Medikamente gegen Covid-19 und Diagnostika zur Erkennung der Krankheit nicht abdeckt.

Tatsächlich kamen die WTO-Mitglieder überein, innerhalb der nächsten sechs Monate auch über die Aussetzung der Patentrechte auf die lukrativen Arzneien und Diagnostika zu entscheiden. Doch die Antwort auf diese Frage fiel schon auf der jetzt beendeten 12. Ministerkonferenz. Eine Ausnahmeregelung für Heilmittel und Testverfahren wird es nicht geben – der Widerstand aus den EU-Staaten, den USA, Großbritannien, der Schweiz und anderen Staaten mit starker Pharmabranche ist dafür zu groß.

Jan Dirk Herbermann

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