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Der Philosoph Peter Sloterdijk eröffnete mit diesem Text den Diskussionsabend im asisi Mauer-Panorama in Berlin-Kreuzberg in Kooperation mit dem Tagesspiegel-Newsletter "Checkpoint" am 1. November 2019 zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach 30 Jahren Mauerfall.

© Stefan Weger

Exklusiv

Philosoph Peter Sloterdijk über den Mauerfall: Die DDR - ein Weltkulturerbe der Enttäuschung

Von Napoleon bis 1989: Historische Umbrüche folgen konkreten Handlungen - erst Erinnerung macht gesellschaftliche Prozesse zu Geschichte. Notizen zum Mauerfall.

Alle Welt redet in diesen Tagen von „Geschichte“, ob aus Anlass von Jubiläen oder im Blick auf Vorgänge, die sich gegenwärtig ereignen und weiter im Gang sind. Wie man beim Tod des Papsts aus Polen im April 2005 auf der Piazza San Pietro santo subito rief, Heiligkeit nach kurzem Prozess, so fordern seit Längerem die Sprecher des Feuilletons und der Sportseiten das Privileg, standrechtlich Geschichtlichkeit zu proklamieren, wo gerade ein Rekord übertroffen oder ein Handschlag zwischen gewählten und nicht gewählten Schurken ausgetauscht wurde.

Überall wird „Geschichte“ geschrieben, wie und wann sie verlangt wird, in Stadien, Konferenzsälen und Nachtprogrammen. Verlangt wird sie dort vor allem, wo man sich vor dem Chaos des Gleichzeitigen retten möchte ins vorstellbare Nacheinander, aus der Unübersichtlichkeit in die Erzählbarkeit, aus dem Auf und Ab der Oszillografen in alte oder neue Narrative – und dies, obwohl und weil, wie Walter Benjamin vor bald einem Jahrhundert richtig notiert hatte, die Welt von sich her strukturell unerzählbar geworden ist.

Was man seit einer Weile mit bedeutsamer Betonung „Narrative“ nennt, sind autogene Mythen oder Programme, von denen sich ihre Erzähler hypnotische Wirkungen versprechen, auf sich selbst und andere. Einen verwandten Gedanken hatte Robert Musil durch eine Figur seines Jahrhundertbuchs „Der Mann ohne Eigenschaften“ zum Ausdruck gebracht, als er sie sagen ließ, die klassische Dyade von Ich und Universum habe sich aufgelöst; ja, es stehe jetzt, um deutlich zu reden, nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, vielmehr ein kolloidales Etwas, vorzeiten zum Urheber seiner Biografie stilisiert, bewege sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit.

Die globale Situation, als Lage aller Lagen konzipiert, hätte demnach die Form einer Super-Petrischale, in der zahllose Agenzien und Reagenzien sich im Modus Wechselwirkung aufeinander beziehen, ko-attraktiv, ko-repulsiv, ko-produktiv, ko-destruktiv. Vorgänge in Petrischalen nennt man mit gutem Grund nicht Geschichten, sondern Prozesse.

Der Übergang aller Übergänge: die Eingliederung der Handlungswelt in die Ereigniswelt

Der Übergang von Geschichtsdenken in Prozessdenken lässt sich bis ins mittlere 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Damals und seither gewannen Modelle an Prägnanz, die den Übergang aller Übergänge, die Eingliederung der Handlungswelt in die Ereigniswelt, auf den Begriff zu bringen versuchten: Evolutionstheorie, Thermodynamik, Theorie der Kapitalbewegung, Morphogenetik, Biosystemik, Klimatologie, Ökologie, Kybernetik, Semiotik und Theorie von Allem. Es sind dies die Denkformen, deren Einsickern in die Konversationen von Zeitgenossen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg die Stimmung und den Begriff der Posthistorie erzeugten. Die genannten Theorie-Entwürfe haben den Ehrgeiz gemeinsam, den menschlichen Agenten in der Super-Petrischale ein Gefühl von Orientierung zu vermitteln.

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Orientierung vermitteln heißt einen Sinn beziehungsweise ein Organ für die Tendenz der Gesamtbewegung hervorrufen. Eben dies – dass die Gesamtbewegung einer Tendenz folge und dass die Tendenz auf ein menschlicherseits vernünftig wünschbares Ziel zustrebe, kurz gesagt: dass sie auf den Vernunft- und Rechtsstaat zugehe, der den Wohlfahrts- und Kulturstaat freisetzt – rief an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert den Begriff der „Geschichte“ ins Leben. Er gehört zu den seltenen Konzepten, die den pluralis maiestatis durch den Majestäts-Singular ersetzen. Besagt ist damit, in der Super-Petrischale dürften nicht zielblinde Prozessabläufe das Kommando behaupten, vielmehr müsse das vernunftvolle Ziel den Abläufen die Richtung aufprägen. Wo bloßer Prozess war, soll geschichtliche Handlung werden, und wo das Handeln in Kraft tritt, wird von den Ergebnissen erwartet, sie konvergierten cum grano salis mit dem rationalen Plan; zumindest sollten die Resultate den Plan nicht Lügen strafen.

Überlegungen dieses Typs liefern abstrakte Luftaufnahmen der west- und mitteleuropäischen Lage zwischen 1789 und 1830. Aus fast frivoler, quasi Hegelscher Höhe bilden sie die Erfahrung der Generationen ab, die durch den Tumult der Französischen Revolution und das Spektakel der Napoleonischen Kriege geprägt wurden. Bei den Zeitgenossen der großen Turbulenz, namentlich bei den beiden romantischen Generationen, setzte sich ein Begriff von Geschichte durch, der dem antiken Konzept des „Schicksals“ näher stand als der aufklärerischen Idee vernünftiger Volks- und Staatsaktionen.

Der erste 9. November in der Serie europäischer Geschichtszeichen: Der französische Staatsstreich von 1799

Um 1800 war die stoisch-christliche Vorstellung verblasst, wonach eine gütige Vorsehung den Gang der Dinge langfristig eingerichtet habe, selbst wenn der prästabilierte Sinn vom menschlichen Verstand nicht auf den ersten Blick erfasst werden kann. „Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen.“ Wie soll die Ameise das Muster des Teppichs begreifen, über den sie dahineilt? Die Inflation des erneuerten Schicksalsbegriffs entsprang einem weit verbreiteten Gefühl für die dunklen Ironien der historischen Abläufe.

Keinem Zeitgenossen konnte entgehen, dass mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire 1799 – jenem ersten 9. November in der Serie europäischer Geschichtszeichen, die auf diesen Tag fielen – und mit der Wahl Napoleons zum Ersten Konsul das Rad der Geschichte in eine neo-monarchische Drehung geraten war: Wer es nicht glauben wollte, dem gab die Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804 in Notre Dame endgültigen Aufschluss. Die Anekdote, wonach Beethoven die Widmung seiner 1803 komponierten Dritten Sinfonie opus 55 an Napoleon ausradiert haben soll, illustriert, dass eine wahre Geschichte zugleich gut erfunden klingen kann.

Der Schlüsselsatz der Ereignisse um den 9. November 1799 war in Bonapartes Erklärung zu vernehmen: „Die Revolution ist beendet“ – la Révolution est finie – um fortzufahren: „sie ruht nun fest in den Prinzipien, die zu ihr geführt haben“.

Man darf behaupten, alle folgenden Zeiten dienten der Scheidung der politischen Geister: Von diesem Diktum an trennten sich jene, die wünschten, Napoleon möge recht gehabt haben – man nannte sie summarisch die Liberalen –, von denen, die den Redner der Übereilung bezichtigten, weil ja die Geschichte der „eigentlichen Revolution“ erst auf der Agenda der Zukunft stehe; sie solle nicht mehr bloß dem Bürgertum, sondern dem politisch noch nicht formierten Vierten Stand gehören – aus dem Nein zu Napoleons These entstand der Sozialismus.

Wer Geschichte machen will, findet Gelegenheit, zu erleben, wie es anders kommt

In der ereignishaft aufgewühlten Welt waren die Begriffe von Geschichte und Schicksal einander so nahe gekommen, dass Verwechslungen sich aufdrängten. Napoleon selbst, Geschichtemacher und Fatalitätssubjekt in einem, wollte auf dem Höhepunkt seiner Vollmacht von „Schicksal“ nichts hören. In der bekannten Begegnung mit Goethe am Rande des Erfurter Fürstentags vom 2. Oktober 1808 war das Gespräch der beiden Männer auf die aktuelle Mode der Schicksalsdramen gekommen – sie schien dem Kaiser durchaus zuwider zu sein: „Was will man heute mit dem Schicksal!“, soll er unwirsch bemerkt haben, „die Politik ist das Schicksal!“ Wenige Jahre später, als ihm die Zügel entglitten waren, gab er den bedenklichen Satz zu Protokoll: „Die Wahrheit ist, dass ich nie Herr meiner Handlungen gewesen war.“ Der Mann, den viele für den größten Tatmenschen des letzten Jahrtausends hielten, leistete sich in einer Minute der Besinnung, den Blick auf die Ruinen Frankreichs gerichtet, ein Geständnis, das die Absage an die Illusion der freien Verfügung implizierte. Im Rückblick räumte er die Diktatur der Situationen ein. Wer Geschichte machen will, findet Gelegenheit, zu erleben, wie es anders kommt. Die Macht des Schicksals meldete sich auf der Weltbühne zurück, nachdem sie sich um den Preis schwerer Durchgänge durch Tumulte und Utopien mit der Kunst des Möglichen verständigt hatte. Napoleons Existenz ging ganz ins mythische Register über, als er auf Sankt Helena zum gefesselten Prometheus wurde.

Wenn in diesen Tagen an den 9. November des Jahres 1989 zurückgedacht wird, ist das Vokabular zum Fest umständehalber schneller aufgebraucht als bei den früheren Jubiläen; die üblichen Verdächtigen unter den schönen Substantiven ziehen im Zeitraffer rascher als sonst vorbei, von Wenn und Aber eskortiert: die Freiheit, gewiss, aber diese Kälte; das politische Wunder, wenn nur die Enttäuschung nicht wäre; die Sternstunde, und dann diese Undankbarkeit; der Soli, die Kränkung sine qua non; das Aufatmen zu Beginn, Vergessen und Nostalgie als Zugaben.

Geht man vom Datum und seinen unmittelbaren Folgen auf seine innere Spur im Zeitgenossen zurück, so zeigt sich, es war das einzige Ereignis in dem Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart, von dem man als Beobachter wusste, man erlebe etwas, was schon in statu nascendi Geschichte im eminenten Sinn des Worts bedeutete – Geschichte in Großbuchstaben, geschehende Geschichte, wie sie seit Prophetenzeiten im Buche stand.

Es war einer jener Momente, in denen der stillgelegte Weltgeist aus dem Koma erwachte, als wolle er jeder Prognose zuwider nochmals lebendig werden. Für einmal drückte er sich nicht in Hieroglyphen aus, sondern in Nachrichtensprache, auf allen Kanälen, monothematisch. Man hätte glauben können, alle Film- und Fernsehkameras der Welt würden gebraucht, um zu zeigen, wie sich Menschen in die Arme fielen, denen keine Mauer mehr im Weg stand. Als die Geschichte erwacht war, wollte man nichts anderes sehen und hören als Nachrichten.

Die hatten kein Pathos nötig, es genügte, die Kameras auf die Gesichter der Menschen zu richten. Wurde einmal ein überhöhter Ausdruck geprägt, wie der „Fall der Mauer“, hörte man darüber hinweg. Alle wussten, die Mauer fiel nicht, sie wurde porös, sie zeigte ein paar nicht mehr kontrollierte Durchlässe, sie wurde überklettert, überflutet, übertanzt, später wurde sie zum Objekt vielfältiger Dekonstruktionen mit Meißelspitzen, sie hatte in den 28 Jahren ihres Bestehens genügend Verfluchtheit angesammelt, um in kleinen Bruchstücken als Amulette widerlegter Bösartigkeit in Plastiktüten verkauft werden zu können.

Historiker behaupten, flinke Geschäftsleute aus den umliegenden Vierteln hätten nach dem 14. Juli 1789 auch an den Quadern der Bastille gut verdient. Das Bemerkenswerte an der Berliner Mauer liegt jedoch weder in ihrer relativen Kurzlebigkeit noch in der einzigartigen Verkehrtheit ihrer Rechtfertigung. Es zeigt sich in der Plötzlichkeit ihres Funktionsverlusts. Es dürfte in der Geschichte von Großgebäuden kein zweites Bespiel dafür geben, dass ein Konstrukt solchen Volumens binnen einer Stunde zur Ruine wurde. Diese Singularität springt sogar im Rahmen von DDR-Verhältnissen ins Auge. Die seltsame Republik besaß auf dem Feld des Ruinen-Anbaus eine sichtbare Kompetenz – sie ließ die historischen Bausubstanzen ihrer Städte vorsätzlich verrotten, bis an den Punkt, von dem an das Volkswort „Ruinen schaffen ohne Waffen“ kein bitterer Scherz mehr war, sondern eine sachliche Diagnose.

West-Berliner versuchen mit Hämmern und Kreuzhacken am 10. November 1989, die Berliner Mauer einzureißen.
West-Berliner versuchen mit Hämmern und Kreuzhacken am 10. November 1989, die Berliner Mauer einzureißen.

© dpa/pa

Die Wendung vom kurzzeitigen Erwachen der Geschichte nach dem 9. November 1989 sollte nicht als Redensart aufgefasst werden, so sehr sie auch bildlich formuliert ist. Mit diesem Datum verbindet sich eine Verstehensaufgabe, die sich in die Frage kleiden lässt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ausspruch Napoleons nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire des Jahres VIII: „la Révolution est finie“ und dem am Abend des 9. November 1989 in Ostberlin umlaufenden Ruf: „Die Mauer ist offen“? Der mögliche Zusammenhang ist weniger okkult, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Beide Sätze markieren Wendepunkte in gescheiterten oder, um vorsichtiger zu reden, paradox entfalteten Revolutionsprojekten.

Im Fall Napoleon handelte es sich um einen monarchistischen Rückschlag gegen die Ereignisse von 1789 und 1793 – mit der Pointe, dass die Regression sich ins Gewand einer plebiszitären Diktatur mit imperial-revolutionärer Rhetorik kleidete – Bonaparte gewann bei der nachträglichen Wahl zu Beginn des Jahres 1800 zum Ersten Konsul auf Lebenszeit über 99 Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent.

Der Satz „die Mauer ist offen“ markierte einen Schlusspunkt unter den Versuch, die russische Besatzungszone des kollabierten Hitler-Reichs durch Systemimport in eine deutschsprachige sozialistische Sowjetrepublik zu transformieren. Wo der Ruf „die Mauer ist offen“ zu hören war, klang in seinen Obertönen auch das napoleonische „die Revolution ist beendet“ mit – es waren aber nicht die Nachklänge der zehn Jahre währenden Großen Tage vom 14. Juli bis zum 18. Brumaire. Vielmehr war die gesamte Sequenz der Politiken und Bewegungen mitberührt, die vom Mythos der Zweiten Revolution lebten, einschließlich der Ereignisse vom Oktober 1917 mitsamt ihren internen Folgen und ihren Ausstrahlungen in die inzwischen verschwundene Zweite Welt. Wer im November 1989 expressis verbis „die Revolution ist beendet“ gesagt hätte, würde sich aus den Reihen derer verabschiedet haben, die nahezu zweihundert Jahre lang dem Diktum Bonapartes ihren Widerspruch entgegengesetzt hatten: Sie schworen darauf, die Revolution habe sich nur scheinbar zur Ruhe gelegt; die eigentliche Revolution, die zweite, die große, die wirkliche sei nur als kommende zu denken.

Die Öffnung der Mauer als Abschlussfigur einer revolutionsgeschichtlichen Sequenz

Das starke Gefühl vom November 1989, jene unmittelbare Gewissheit, noch einmal geschehende Geschichte zu erleben, war dadurch mitbedingt, dass die Öffnung der Mauer eine so unvorhergesehene wie dramaturgisch unentbehrliche Abschlussfigur der revolutionsgeschichtlichen Sequenz darstellte, die seinerzeit im Pariser Juli begonnen hatte, um nun, zufällig und zwingend, in einem Berliner Spätherbst zu enden.

Wenn die folgenden Wochen bei so vielen Zeitzeugen den Sinn fürs Erhabene ansprachen, so weil die Ereignisse mit dem Pathos des Zum-letzten-Mal das abziehende Unwetter der Großen Tage und ihrer Re-Inszenierungen auf russischem, chinesischem, kubanischem oder kambodschanischem Boden vergegenwärtigten. Könnte die Geschichte sich selbst schreiben, sie gäbe dem Passus den Titel „Das Ende einer Illusion“.

Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.
Menschen auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989.

© Peter Kneffel/dpa

Dass der dramaturgische Ausnahmezustand allmählich verflog, war etwa von Mitte Dezember an zu verspüren, als man sich zunehmend wieder daran erinnerte, es gebe noch andere Vorgänge, die berechtigte Forderungen nach Aufmerksamkeit erhoben. Man begann zu begreifen, die Schockverwandlung der Mauer in eine Ruine war erst der Anfang gewesen. Wie man an französischen Bahnübergängen regelmäßig den Hinweis findet: „Un train peut en cacher un autre“ – hinter einem sichtbaren Zug könnte ein anderer verborgen sein –, so lernte man nach Durchschreiten der aufgehobenen Grenzen in Richtung Osten, dass Ruinen viel mehr Ruinen enthalten können, als der erste Blick verrät. Nicht bloß Großbauwerke gehen, wenn keine Erhaltungsarbeit geleistet wird, an der Erosion zugrunde – selbst die Pyramiden Ägyptens sind, wie man heute weiß, Produkte von mehrfachen Restaurationen, von denen die ältesten bis in die tiefe Antike zurückgehen. Auch Staaten sind nur als Werke permanenter Restauration zu denken – sie tragen ihren Namen paradoxerweise, da ihr Staats- und Statuscharakter, ihr „Stand“ und Stehen, allein durch die fortlaufend zu erbringende Vermeidung des Lapsus, des Sturzes zu erreichen ist. Dies gehört zu den Lektionen des autumnus mirabilis von 1989, als ein Staat zur Großruine wurde und auch durch die Diktatur des Antiquariats nicht mehr zu retten war.

Jo Brauner, damals ARD-Chefsprecher, verliest in der 20 Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" vom 9. November 1989 die Nachricht, dass die DDR ihre Grenzen öffnet.
Jo Brauner, damals ARD-Chefsprecher, verliest in der 20 Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" vom 9. November 1989 die Nachricht, dass die DDR ihre Grenzen öffnet.

© NDR/ARD aktuell/dpa

Aus der Rubrik „andere Vorgänge“ soll hier eine Episode hervorgehoben werden, die an das kurze Erwachen der Geschichte aus dem posthistorischen Koma unter einem anderen Blickwinkel erinnert. Sie wirft zudem Licht auf die zunehmende Konvergenz von Politikwissenschaft und Ruinenkunde. Seit 1986 umkreiste die sowjetische Raumstation Mir, von wechselnden Besatzungen bemannt, die Erde in einer Höhe von 390 Kilometern, mit einer Umlaufzeit von 89 Minuten. Am 18. Mai 1991 war der dreiunddreißigjährige Astronaut beziehungsweise „Kosmonaut“ – nach der Sprachregelung des Ostens – Sergei Krikaljew zu seinem zweiten längeren Aufenthalt auf der Mir gestartet, in der Erwartung seiner Ablösung im Oktober desselben Jahres.

Auf der Erdoberfläche geschahen unterdessen Dinge, die zu der Außenansicht des Planeten vom posthistorischen Umkreisungsmedium Raumstation nicht recht zu passen schienen. Drei Wochen, nachdem Krikaljew sich in seiner exzentrischen Hülle eingerichtet hatte, man schrieb den 12. Juni, wurde Boris Jelzin zum Präsidenten der russischen Teilrepublik der UdSSR gewählt, erstmals seit 1918 in freien Wahlen. Im August putschte eine Junta von Altkommunisten gegen die neue Staatsführung, wurde aber durch Jelzins deutliches Auftreten und massive Proteste der Bevölkerung in die Schranken gewiesen. Wenige Tage später war Michael Gorbatschow, als Generalsekretär der KPdSU nur scheinbar noch der starke Mann, von einem Krim- Urlaub nach Moskau zurückkehrend, faktisch entmachtet.

Als Sowjetbürger abgereist, kehrte Kosmonaut Krikaljew nach 311 Tagen als Russe zurück

Die Auflösung der Sowjetunion in Teilstaaten war nur eine Sache von Wochen, allenfalls Monaten. Die Führung der kasachischen Teilrepublik nahm den Zerfall der SU vorweg, indem sie das Land am 29. August, acht Tage nach der Niederschlagung des Putschs, für unabhängig erklärte. Nun lag der Weltraumbahnhof Baikonur aus Moskauer Sicht auf ausländischem Territorium. Kasachstan insistierte darauf, beim nächsten Besatzungswechsel einen eigenen Mann auf die Station zu bringen, zum höheren Ruhm des wenige Wochen alten Staats, die Wahl fiel auf einen vormaligen sowjetischen Kampfpiloten namens Äubäkirow. Infolgedessen konnte Krikaljew nicht wie vorgesehen im Oktober abgelöst werden; er hatte weitere fünf Monate in posthistorischer Distanz von Erdoberflächenvorgängen zuzubringen, den Planeten sechzehn mal in 24 Stunden umkreisend. Als er schließlich am 25. März 1992 zur Erde zurückkehrte, betrat er den Boden eines ihm unbekannten politischen Gebildes – als Sowjetbürger abgereist, kehrte er nach 311 Tagen als Russe zurück; er fand seine Heimatstadt Leningrad in St. Petersburg zurückbenannt vor.

Zu den Mirakeln zeitgenössischer Dokumentationskunst gehört, dass wir über das Treiben Krikaljews und seiner Kollegen an Bord der Mir ziemlich präzise im Bild sind: Der deutsch-rumänische Filmemacher Andrei Ujica hat in Out of the Present, 1995, einem Meisterwerk des künstlerischen Dokumentarfilms, die durch die Crew aufgenommenen Videos zu einer intensiven Szenenfolge von 89 Minuten Länge rekomponiert. Unvergesslich die Weihnachtsfeier der Astronauten, bei der eine in der Schwerelosigkeit brennende Kerze mit der Flamme nach unten durch den Raum schwebt. Hier waren die Primärträume der Moderne wahr geworden, der Sieg über die Sonne, der Sieg über die Schwerkraft.

Die Mir wurde am 23. März 2001 über dem Pazifischen Ozean zum Absturz gebracht, wo ihre Trümmer, soweit sie nicht verglüht waren, spurlos versanken. Vergleichbares hat das Konsortium der Betreiber der Internationalen Raumstation ISS für die Zeit nach 2024 vor; auch sie arbeiten an einem Ruin ohne Ruine.

Touristen im Sommer 2019 auf beiden Seiten der East Side Gallery auf den Resten der Berliner Mauer
Touristen im Sommer 2019 auf beiden Seiten der East Side Gallery auf den Resten der Berliner Mauer

© Fabrizio Bensch/Reuters

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ – so beginnt, wie bekannt sein sollte, das „Höllenfahrt“ überschriebene Vorspiel zum ersten Teil von Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“, betitelt: „Die Geschichten Jaakobs“, erschienen im Jahr 1933 bei Samuel Fischer zu Berlin. Das Mann’sche Brunnenbild wirkt auf der Stelle überzeugend angesichts von Ereignissen, die sich in einer Ferne von mehr als dreitausend Jahren zugetragen haben sollen. Sie spielen in einer Zeit, die bevölkert ist von hebräischen Urvätern und Urmüttern, von eifersüchtigen Brüdern und midianitischen Händlern, von einem Palast-Eunuchen und seiner mangelerhitzten Frau, von inzestuösen Geschwistern, von einem Pharao mit schweren Träumen und einem charismatischen jungen Mann, den sein Schicksal zwingt, die Kunst des Gefallens gründlich zu erlernen – da es auf diesem Gebiet erwiesenermaßen fatal ist, auf das Talent allein sich zu verlassen.

Es bleibt fraglich, für wie tief man den Brunnen der Vergangenheit halten darf, wenn sein Schacht zu einem nur dreißig Jahre zurückliegenden Ereignis führt, mag dieses auch, wie angedeutet, an tiefere Schächte angeschlossen sein. Es ist zudem ungewiss, ob man es mit einem Brunnen zu tun hat. Es scheint eher, man hat den Schacht über dem Ereignis sehr früh mit Beton ausgegossen, wie man es im Ruhrgebiet mit stillgelegten alten Bergwerken tat, um das Nacharbeiten ausgehöhlter Erdschichten abzufangen. Falls Analogien dieser Art ein brauchbarer Sinn zukommt, besagen sie, auch Brunnen können zu Ruinen werden.

Besucher im asisi Mauer-Panorama in Berlin-Kreuzberg
Besucher im asisi Mauer-Panorama in Berlin-Kreuzberg

© Stefan Weger

Wenn in den kommenden Tage Unzählige sich versammeln, um des sogenannten Falls der Mauer vor dreißig Jahren zu gedenken, so hat dies seine Richtigkeit. Ereignisse gibt es nur, wo man sie symbolisch wiederholt. Man soll bedenken, Jubiläumskultur kreist in sich selbst. Sie bildet eine Routine, eine Pfadgewohnheit unter vielen. Auch das Mauer-Andenken verfällt zu einem Prozess in der großen Petrischale, solange in den Gedenktagen das Brunnenproblem nicht ins Gespräch gebracht wird.

Als Teilruine des Sozialismus wurde die DDR zu einem Teil des Weltkulturerbes der Enttäuschung

Die Deutsche Demokratische Republik, die im Oktober 1949 als Replik auf die im Mai desselben Jahres konstituierte Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurde, war, als sie fünfzig Jahre später scheiterte, eine Ruine großen Maßstabs. Als Ruine war sie eine Gestalt des Brunnens der Vergangenheit, dessen Bohrung bis zu den ältesten Imperien absteigt.

Aus der tiefen Tiefe drängt die Frage herauf, ob das Glück der Wenigen immer durch das Unglück der Vielen bezahlt werden muss. Sie kommt der metaphysischen Frage gleich, ob das Missverhältnis nur im Jenseits behebbar ist, wenn Gott es richtigstellt, oder ob sich im Diesseits ein lebbarer Ausgleich ermitteln lässt.

Der Sozialismus, wie man ihn kannte, war eine Teiloption innerhalb der Option für das Diesseits als Schauplatz der Berichtigungen. Man hat ihn meistens als politischen Materialismus missverstanden; er trug dieses Selbstmissverständnis ein wenig plump vor sich her. In Wahrheit war der Sozialismus ein politischer Stoizismus, mithin der Versuch, unter bescheidenen Verhältnissen Souveränität zu erlangen.

Dass der Versuch zur Hälfte gelang, bleibt bemerkenswert; der Protest der Zeugen dieser Hälfte gegen nachträgliche Entwertungen ist sehr berechtigt. Die Entwertungen hatten ihrerseits einen begreiflichen, wenn auch bedenklichen Grund. Sie gingen von der allgemeinen Vergiftung der modernen Kulturen durch die Idee des Glücks in der Maßlosigkeit aus. Wie hätten die Bürger Ostdeutschlands ihr widerstehen sollen, wenn große Teile Westeuropas und Amerikas ihr schon huldigten, gefolgt von Osteuropa und dem, was man mit grundloser Herablassung den Rest der Welt nannte?

Die Enttäuschung affiziert zunehmend auch die Idee der Demokratie

Der Philosoph Peter Sloterdijk eröffnete mit diesem Text den Diskussionsabend im asisi Mauer-Panorama in Berlin-Kreuzberg in Kooperation mit dem Tagesspiegel-Newsletter "Checkpoint" am 1. November 2019 zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach 30 Jahren Mauerfall.
Der Philosoph Peter Sloterdijk eröffnete mit diesem Text den Diskussionsabend im asisi Mauer-Panorama in Berlin-Kreuzberg in Kooperation mit dem Tagesspiegel-Newsletter "Checkpoint" am 1. November 2019 zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach 30 Jahren Mauerfall.

© Stefan Weger

Als Teilruine des Sozialismus wurde die DDR zu einem Teil des Weltkulturerbes der Enttäuschung. Die greift seit dem Beginn des nicht mehr ganz neuen Jahrhunderts auf Nationen über, die bisher die Laboratorien des Liberalismus bildeten. Die Enttäuschung affiziert zunehmend auch die Idee der Demokratie. Immer spürbarer wird für viele, dass der Ausdruck „Demokratie“ ein Pseudonym für herrschende Mächte von durchaus nicht-demokratischer Tendenz darstellt. Die Behauptung, alle Gewalt gehe vom Volke aus, klingt hohl angesichts des Umstands, dass, wenn nicht alle, doch ein Gutteil der Gewalten von den Wenigen, den oligoi, ausgeht – Oligokratie; das übrige geht vom Steuersystem aus – Fiskokratie; vom lenkbaren Hass – Mobokratie, und nicht zuletzt von der Furcht – Phobokratie. Eine Demokratie, der es nicht gelingt, die vier Monstren zu zähmen, erliegt eher früher als später systemeigenen selbstruinierenden Tendenzen. Die Prozesse in der globalen Petrischale verraten, dass die viel genannte „Rückkehr der Geschichte“ nach 1991 ein Trugbild war. Die Lebensfähigkeit der Demokratie hängt davon ab, ob es ihr gelingt, sich auf der Liste des Weltkulturerbes selbst an die erste Stelle zu setzen.

Peter Sloterdijk

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