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Unüberbrückbare Differenz? Der russische Präsident Wladimir Putin (r) spricht mit dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow.

© Heribert Proepper/AP/dpa

Für Gorbatschow gehörte die Krim zu Russland: Das unterschlägt Steinmeier in seinem Kondolenzschreiben

Gorbatschow, ein Wegbereiter der deutschen Einheit? Ja, das war er. Aber er war eben auch ein Propagandist der großrussischen Einheit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Man lese und staune. Auch Frank-Walter Steinmeier, der Bundespräsident, hat kondoliert. Zum Tod von Michail Gorbatschow erinnert er an dessen „große Vision von einem gemeinsamen und friedlichen Haus Europa“. So weit, so gut.

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Dann aber schreibt Steinmeier: „Wer ihn in den letzten Jahren erlebt hat, konnte spüren, wie sehr er daran litt, dass dieser Traum in immer weitere Ferne rückte. Heute liegt der Traum in Trümmern, zerstört durch den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine. Michail Gorbatschow wollte eine andere Zukunft, wir wollen eine andere Zukunft.“

„Wir sind eine starke Nation, und wir haben was zu sagen“

Wirklich? Die Krim sei ein Teil Russlands, hat Gorbatschow stets betont. Die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel hat der ehemalige sowjetische Präsident verteidigt. „Die Wahrheit besteht darin, dass man die Krim nicht von Russland losreißen darf, sagte er im November 2014 bei einem Besuch in Berlin. Denn: „Wir sind eine starke Nation, und wir haben was zu sagen.“ Wenn er jetzt Präsident wäre, hätte er es genauso gemacht wie Wladimir Putin.

Die Krim war von Russland im März 2014 annektiert worden. Außerdem verfügte Putin, die Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen. Beides prangerte US-Präsident Barack Obama – auch er, wie Gorbatschow, ein Friedensnobelpreisträger – im September 2014 in einer Rede vor den Vereinten Nationen an. Russland müsse seine Aggression teuer bezahlen, sagte er und kritisierte das Land als globale Gefahr – in einem Satz mit der Seuche Ebola und dem Terrorismus.

„Die Welt steht am Abgrund eines großen Unglücks“

Gorbatschow reagierte spontan. „Es gibt nur ein wesentliches Fieber auf der Welt – die USA und ihren Führungsanspruch“, sagte er. Die Ukraine werde von der US-Regierung nur als Vorwand genommen, um weiter nach Vormacht zu streben. Es gebe Anzeichen für einen neuen Kalten Krieg. „Die Welt steht am Abgrund eines großen Unglücks.“

Sieben Jahre später, im Dezember 2021, hatten sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen erneut verschärft. Putin hatte einen massiven Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine befohlen. Ein Angriff auf das Nachbarland wurde befürchtet.

„Arrogant und selbstherrlich“ sei der Westen

In dieser Situation gab Gorbatschow der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti ein Interview. Dem Westen warf er vor, nach dem Zerfall der Sowjetunion „arrogant und selbstherrlich“ aufgetreten zu sein. Eine „triumphale Stimmung“ habe geherrscht, vor allem in den USA. Als „Gewinner“ sei entschieden worden, ein „neues Imperium“ aufzubauen.

Gorbatschow, ein Wegbereiter der deutschen Einheit? Ja, das war er. Aber er war auch ein Propagandist der großrussischen Einheit. Diese Einheit stellte er, im Zweifel, über das Völkerrecht. Hat Putin, wie Steinmeier schreibt, durch Russlands brutalen Angriff auf die Ukraine die große Friedensvision Gorbatschows zerstört? Über diesen Satz, der eine unüberbrückbare ideologische Distanz zwischen Putin und Gorbatschow insinuiert, hätte Steinmeier erst nachdenken und ihn dann zumindest umformulieren sollen.

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