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Der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, in seinem Moskauer Büro.

© kyodo/dpa

Gorbatschows Vermächtnis: Chance verpasst

Michail Gorbatschow hadert in seinem neuen Buch mit dem Gang der Weltgeschichte. Doch sein Blick auf Russland verklärt die Tatsachen. Eine Rezension.

Als Michail Gorbatschow, KP-Chef und Präsident der Sowjetunion, im Herbst 1990 den Friedensnobelpreis erhält, hat er schon sehr viel erreicht.

Er hat die sowjetischen Truppen aus Afghanistan zurückgezogen, den Fall der Berliner Mauer, die deutsche Einheit und die Emanzipation der Staaten Mittelosteuropas zugelassen, er hat mit den USA Verträge zur Begrenzung und zum Abbau von Nuklearwaffen ausgehandelt.

Gorbatschow konnte den Preis in Oslo damals nicht selbst entgegennehmen und ließ seinen Außenminister Andrej Kowaljow die Dankesrede in seinem Namen verlesen. Darin findet sich der Satz: „Wir haben damit begonnen, konsequent die materiellen Grundlagen für die militärische, politische und ideologische Konfrontation zu zerstören.“ Nun hat der 88-Jährige sein Programm der Perestroika, das er bereits 1985 in einem aufsehenerregenden Buch niederlegt hatte, im Kern unverändert noch einmal aufgeschrieben. Als Vermächtnis gewissermaßen: „Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“.

Gorbatschows neues Buch

© Siedler

Ein knappes Jahr nach der Ehrung mit dem Nobelpreis ist Gorbatschow gescheitert: das Opfer eines Putsches, abserviert von den eigenen Leuten, von denen er viele persönlich in den Führungskreis geholt hat. Doch er hinterlässt Bleibendes. Noch in seinem Scheitern hat dieser Michail Gorbatschow die Welt mehr verändert als die meisten erfolgreichen Politiker des 20. Jahrhunderts. Das erklärt die Faszination, die von dieser Persönlichkeit noch 30 Jahre nach seinem Sturz ausgeht. Zu Recht genießt er dafür in vielen Ländern hohes Ansehen – nur nicht in seiner Heimat. Vielen seiner Landsleute gilt er als Kapitulant und Verräter. In Moskau hat ein Abgeordneter der Duma gerade einen Antrag eingebracht, die Opfer der Perestroika finanziell zu entschädigen.

Manifest der Perestroika - reloaded

Sein neues Manifest der Perestroika zeigt Gorbatschow als einen weiterhin Unermüdlichen auf dem Weg, der Welt eine Alternative zu Konfrontation und Hass vorzuschlagen. Ob es um nukleare Abrüstung und gemeinsame Sicherheit, Globalisierung und die ökologischen Herausforderungen, Populismus und den Verfall politischer Moral, Globalisierung und die Krise der Demokratie geht – Gorbatschow ist der Ansicht, wir seien schon einmal weiter in der Nutzung von Pragmatismus und Vernunft bei der Lösung unserer Konflikte gewesen. Dabei verweist er auf die Gespräche und Verhandlungen, die er damals geführt hat. Gorbatschow wiederholt dabei vieles aus seinen früheren Büchern, glücklicherweise sehr viel weniger ausschweifend.

Immer wieder erhebt Gorbatschow den Vorwurf, vor 30 Jahren sei eine gewaltige Chance verpasst worden, diese Welt sicherer zu machen. Damit hat er uneingeschränkt recht. Recht hat Gorbatschow auch, wenn er eine wesentliche Verantwortung für das Scheitern einer Welt-Perestroika dem Westen zuschiebt. Das triumphale Siegergehabe nach dem Ende des Kalten Krieges hat sehr viel verdorben. Es hat weithin verhindert, dass auch in den Ländern des untergegangenen Sozialismus nach der kurzen Freude das Gefühl eines Sieges von Freiheit und Demokratie nicht nachhaltig Fuß fassen konnte.

Michail Gorbatschow hat die Welt bewegt wie kaum ein anderer Politiker.

© Mike Sargent/ AFP

Doch Gorbatschows Buch durchzieht eine entscheidende Auslassung. Er vermeidet es, eine andere zentrale Ursache für sein Scheitern zu analysieren: Es war nicht der Westen, der die Perestroika im Sommer 1991 beendet und ihn gestürzt hat. Es waren seine eigenen Leute. Es waren Politiker, die man heute wohl im Umfeld des Weltmachtstrategen Wladimir Putin vermuten dürfte. Dessen Außenpolitik erscheint in Gorbatschows Buch in merkwürdig mildem Licht. Anders als auf den Westen hat er auf Russland kaum einen (selbst-)kritischen Blick. So falsch es ist, die gegenwärtige West-Ost-Entfremdung allein den imperialen Ambitionen Putins zuzuschieben, so falsch ist es auch, sie ganz von Russland wegzuschieben – wie Gorbatschow es tut.

Zankapfel Krim

Und es ist zu bedauern, dass Gorbatschow in seinem Vermächtnis auch vor der Unwahrheit nicht zurückschreckt. So, wenn es um die Krim geht. Zunächst lässt er einen entscheidenden Fakt aus. Als KP-Chef Chruschtschow 1954 das weithin öde Steppenland der Krim an die ukrainische Sowjetrepublik gab, erhielt Russland gewaltige Flächen fruchtbarer Schwarzerdeböden aus dem Gebiet der Ukraine zum Ausgleich. Die hat Moskau nach der Annexion der Krim natürlich nicht zurückgegeben.

Dann erweckt der Autor den Eindruck, nach dem Zerfall der Sowjetunion sei die Bevölkerung nicht befragt worden, wohin sie gehören wolle. Das ist nicht wahr: Im Referendum über die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine vom Dezember 1991 stimmten 54 Prozent der Wähler in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Krim mit „Ja“. Eine knappe Mehrheit.

Auch danach gingen die Kontroversen weiter, aber mit demokratischen Mitteln, sodass 1992 ein tragfähiger Kompromiss ausgehandelt werden konnte: Autonomie für die Halbinsel. Das Referendum unter Aufsicht russischer Truppen vom März 2014 hingegen bezeichnet Gorbatschow als „Volkswillen“. Selbst der Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten Putin verzeichnete jedoch gravierende Manipulationen des Ergebnisses und kommt zu dem Schluss: Unter Berücksichtigung sämtlicher Wahlberechtigten wurde die Mehrheit für Russland klar verfehlt. Der Bericht lässt sich online nachlesen.

Gorbatschows womöglich letztes Buch lässt einen aus mancherlei Gründen traurig zurück.

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