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Politik: Akte Ekel

Vor 15 Jahren wurden die Stasi-Archive geöffnet – Bürgerrechtler erinnern sich an schmerzliche Einsichten

Von Matthias Schlegel

Berlin - Auf Rollwagen mussten sie hereingeschoben werden, zu Bergen türmten sie sich auf – die Akten, die die Stasi über die Unbequemen, die Oppositionellen und Andersdenkenden vollgeschrieben hatte. Es sei „Ekel, ein überwältigender Ekel“ gewesen, erinnert sich Freya Klier des Gefühls, das sie beherrschte, „je länger ich mich über dieses Konvolut menschlicher Niedertracht gebeugt sah“.

Vor 17 Jahren stürmten DDR-Bürger die Stasi-Zentrale in Berlin, vor 15 Jahren nahmen die ersten Protagonisten des Widerstands Einsicht in ihre Stasi-Akten. Ein Gesetz, 1990 von der letzten DDR-Volkskammer angeregt und vom gesamtdeutschen Bundestag 1991 beschlossen, hatte das Archiv für die Betroffenen Anfang 1992 geöffnet. Und das gegen den Widerstand vieler, die Mord und Totschlag prophezeiten und das unselige Erbe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) am liebsten in einem unzugänglichen Endlager entsorgt hätten. Am Montagabend erinnerten im Berliner Zeughauskino einige derer, die in den damaligen Räumen der neu gegründeten Stasi-Unterlagenbehörde in den Berliner Glinkastraße mit ihrem unfreiwillig dokumentierten Lebensweg konfrontiert wurden, an ihre Empfindungen.

Gewiss, die meisten wussten, dass sie im Visier des übermächtigen Geheimdienstes standen. Viele hatten mit offenen Drohungen, erniedrigenden Konfrontationen und lebensverändernden Repressalien fertig werden müssen. „Die Stasi ist mein Eckermann“, dichtete Wolf Biermann schon 1967 über die Sammelwut der Stasi. Doch das Ausmaß der Nachstellungen, die Perfidie der Eingriffe in Lebensläufe und Sozialkontakte überraschten beim Einblick in die Akten selbst die Hartgesottenen. Er habe „festgestellt, dass ich die Sauereien, zu denen die Stasi auch im eigenen Land fähig war, unterschätzt hatte. Es gab letztlich nichts, was sie nicht getan hätte, um ihre eigene Macht zu erhalten“, schreibt der frühere Pfarrer und spätere Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann in der Broschüre „Entscheidungen gegen das Schweigen“, die jetzt von der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, herausgegeben wurde.

Es waren längst nicht nur die prominenten Fälle widerständigen Verhaltens, mit denen sich die zuletzt 91 000 hauptamtlichen und 174 000 Inoffiziellen und Gesellschaftlichen Mitarbeiter (IM/GM) des MfS befassten. In anderthalb Jahrzehnten wurden 2,3 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Birthler spricht von einer „Art von Bürgerbewegung“, die „bis heute noch lebendig ist“. 2006 seien mit 97 000 Anträgen rund 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor bei der Behörde eingegangen. Fast 60 Prozent davon waren Erstanträge. Das Interesse an der „Wiederaneignung der eigenen Biografie“, wie es Joachim Gauck einmal nannte, ist also ungebrochen. Vielleicht haben auch die zähen Debatten über eine Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes im vergangenen Jahr die – unbegründete – Sorge hervorgebracht, die Akten könnten bald weggeschlossen werden.

Birthler erinnerte daran, dass die Akten nicht nur die Funktionsweise des MfS offenlegen. Sie helfen auch, subjektive Erinnerung zu ergänzen, Misstrauen gegen andere zu beseitigen, Zeugnis zu geben von mutiger, auch listiger Verweigerung von Kollaboration. Mit dem aus ihnen gewonnenen Wissen über das Leben in der Diktatur „sind wir in der Entwicklung unseres freiheitlichen Geschichtsverständnisses ein wichtiges Stück vorangekommen“.

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