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Mehr als 87 Prozent der Russinnen und Russen sollen für Machthaber Wladimir Putin gestimmt haben – angeblich.

© AFP/NATALIA KOLESNIKOVA

Putins „Wahl“ und ihre Folgen für uns: Russland ignorieren? Das ist keine Option

Das Regime in Russland versperrt auf absehbare Zeit den Weg zu einer kooperativen Koexistenz. Europa muss seine Sicherheit gegen Moskau organisieren – das ist schon einmal gelungen.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Russland hat gewählt. Muss man das ernst nehmen? Ja und nein.

Die Versuchung ist groß, diese „Wahl“ einfach zu ignorieren. Denn Russland hatte keine Wahl. Mit dem, was man in westlichen Demokratien darunter versteht, hatte der mehrtägige Vorgang nichts zu tun.

Wladimir Putins Sieg stand von vornherein fest. Gegenkandidaten im Wortsinn waren nicht zugelassen, nur eine handvoll vorsortierte Figuren, die den irreführenden Anschein einer Wahl erzeugen sollten.

Die Massenmedien verbreiteten Putin-Propaganda. Die Opposition hat keinen Zugang zur massenhaften Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürgern. Wie groß oder klein das Potenzial von Opposition tatsächlich sein könnte, bleibt in der real existierenden Mischung aus Medienmonopol, Konsensdruck, Furcht vor Repression und Mangel an Alternativen auch nach dieser „Wahl“ im Reich der Spekulation.

Dennoch haben Deutschland, Europa und die Welt Putins Wiederwahl nicht ignoriert. Überall wurde breit berichtet. Auch das hat einen guten Grund.

Es kann uns nicht egal sein, wer im Kreml das Sagen hat. Russland führt Krieg gegen die Ukraine und lässt Soldaten oder Söldner vom Kaukasus über Syrien bis Afrika für seine Interessen kämpfen.

Es hat einen Sitz im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht und ist reich an Rohstoffen, mit denen es die Weltmärkte zu einem gewissen Grad beeinflussen kann. Und: Es verschwindet nicht von Europas Landkarte. Wir spüren die Folgen des Putin-Regimes.

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Menschen waren in Russland und in den vier besetzten, ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zur Wahl aufgerufen.

Russland ignorieren – das ist keine Option. Deutschland und Europa müssen eine realistische Strategie für den Umgang mit Putins Russland finden. Und dafür hat die „Wahl“ durchaus Bedeutung.

Sie entlarvt mehrere Hoffnungen, die manche trotz der bedrückenden Wirklichkeit immer noch gehegt haben, als Illusionen. Es gibt auf absehbare Zeit keine Alternative zu Putin. Er hat die Macht in Moskau.

Keine Chance auf friedliche Koexistenz

Deshalb gibt es auf absehbare Zeit auch keine Chance auf eine friedliche Koexistenz mit Russland und auf eine Friedensordnung, die auf Absprachen und Kooperation basiert. Es wird auch keine Wiederbelebung des Handels geben. Sicherheit kann Europa auf absehbare Zeit nicht mit Russland organisieren – sondern nur gegen Russland.

Das ist eine traurige Erkenntnis. Man würde sich die Welt – oder zumindest die Lage in Europa – anders wünschen. Aber diese Einsicht muss die Deutschen und die Europäer nicht niederdrücken. Denn sie wissen aus Erfahrung, dass sie auch mit dieser ungeliebten Konstellation erfolgreich umgehen können.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs mussten sich die Bundesrepublik und Europa über Jahrzehnte gegen Moskau schützen. Auch damals war das nicht eine freie Wahl. Die Westdeutschen und die Westeuropäer standen nicht vor der Alternative, ob sie sich Sicherheit mit oder Sicherheit gegen die Sowjetunion wünschen. Die Sowjets ließen ihnen keine Wahl. Sie wollten ihre Hegemonie über Osteuropa auf ganz Europa ausdehnen.

Der Tag wird kommen, an dem Putin nicht mehr Russland regiert. Dann wird hoffentlich wieder Kooperation möglich. Bis dahin aber muss Europa Putin abschrecken.

Christoph von Marschall, Diplomatischer Korrespondent der Chefredaktion

Europa entschied sich für Abschreckung durch militärische Stärke im Bündnis mit den USA. Die Bundesrepublik gab in den 1960er Jahren über vier Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aus. Und in den 1970ern gut 3,5 Prozent, obwohl das Zeit umfassender sozialliberaler Reformen und der Entspannungspolitik war.

Deutschland und Europa sind auch heute in der Lage, Putins Russland abzuschrecken und einzuhegen und dennoch genug Geld für Bildung und Soziales zu haben. Sie sollten das sogar ohne die USA können ­– falls ein Präsident Trump ihnen die Beistandsgarantie entzieht.

Die EU hat eine siebenmal so große Wirtschaftskraft wie Russland, trotz dessen vieler Bodenschätze. Angesichts dieses Unterschieds an ökonomischen Ressourcen ist es schwer zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Europa Angst vor Putin hat und nicht umgekehrt Putin Angst vor Europa.

Um Putin in Schach zu halten, müssen Deutschland und Europa sich nicht arm rüsten. Sie müssen nur an ein paar Stellschrauben drehen, um die Ressourcen für abschreckungsfähige Streitkräfte freizumachen. Und die politische Entschlossenheit aufbringen, diese Ressourcen ohne Zeitverlust in effektives europäisches Militär zu investieren.

Der Tag wird kommen, an dem Putin nicht mehr Russland regiert. Dann wird hoffentlich wieder Kooperation möglich. Bis dahin aber muss Europa Putin abschrecken.

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