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Sarrazin in Kreuzberg: Bilder lügen, die beweisen gar nichts

Ein teures, wahrheitswidriges Sommerinterview mit Christian Wulff auf Norderney und ein provokativ nach Kreuzberg geführter Thilo Sarrazin: Warum macht das Fernsehen das? Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein möchte begreifen.

Ich bin nicht verärgert oder empört, ich bin nur ratlos. Was bringt das? Warum schafft ein Fernsehsender für ein sogenanntes „Sommerinterview“ den Bundespräsidenten für ein paar Stunden auf die Insel Norderney und lässt den Präsidenten dort wahrheitswidrig behaupten, er mache jetzt gerade mit seiner Familie Urlaub auf Norderney? Warum gibt man so viel Kohle aus, obwohl man das Sommerinterview jederzeit zum Discountpreis im Garten des Präsidenten hätte machen können? Oder meinetwegen im Biergarten, wo der Präsident dann, den Bierkrug hebend, sagt, leider beginne sein Norderney-Urlaub erst in drei Wochen, aber er freue sich schon darauf? Wird ein Interview dadurch, dass man die Wahrheit sagt, irgendwie unauthentischer? Sinkt die Akzeptanz des Fernsehpublikums, sinkt die Quote, leidet die intellektuelle Substanz, wenn man im Hintergrund einen Biergarten sieht statt eines Strandes?

Wie gesagt, ich möchte es einfach nur gerne begreifen. Das mit der Insel Norderney hat angeblich 15.000 Euro gekostet. Bei den Griechen hat es genauso angefangen: Das Land gibt Geld aus für Dinge, die man nicht versteht.

Ähnlich ist es mit dem Sarrazin-Besuch in Kreuzberg. Das Fernsehen schafft Thilo Sarrazin nach Kreuzberg, sorgt dafür, dass er auffällt, er wird dann natürlich von irgendwelchen Typen angepöbelt, die von dem Neffen des Freundes ihrer Schwester gehört haben, dass Sarrazin alle Türken für Untermenschen hält. Beweist man damit was, über Türken, über Sarrazin, über Kreuzberg? Hat es einen Sinn? Nein. Ich kann morgen mit einem Drehteam nach Kopenhagen fahren und euch die gleichen Bilder besorgen. Ich stelle mich mit Sarrazin auf den Tivoli und erzähle den Dänen, dass Sarrazin ein Buch geschrieben hat, in dem er behauptet, die Dänen hätten den Zweiten Weltkrieg angefangen, besäßen den Intelligenzquotienten von Kleinnagetieren und hätten Sex mit Hühnern. Das Buch habe sich zehn Millionen Mal verkauft, jetzt sei Sarrazin auf dem Tivoli, um seinen Erfolg zu feiern. Da kriege ich die gleichen Bilder. Hinterher spreche ich mit ernstem Gesicht einen Kommentar: „So intolerant ist Dänemark!“

Bilder lügen, die beweisen gar nichts. Das weiß jeder, außer den Fernsehmachern. Ich finde es auch immer lustig, wenn Teams von Politmagazinen unangemeldet vor dem Haus von jemandem auftauchen, dem irgendwas vorgeworfen wird. Sie klingeln, die Tür geht auf. Ein Reporter ruft: „Sie sollen 50 Millionen hinterzogen und den amerikanischen Präsidenten erschossen haben. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?“ In so einer Situation würde auch ich die Tür ganz schnell wieder zumachen. Wäre dies gegebenenfalls der Fernsehbeweis dafür, dass ich den amerikanischen Präsidenten erschossen habe? Offenbar ja.

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