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Ukrainisches Kriegstagebuch (149): Trauer um Victoria Amelina

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Wahrscheinlich brauche ich eine Brille. Immer wieder kommt es vor, dass alles vor meinen Augen verschwommen scheint und es dauert, bis die Schärfe zurückkehrt. Um mich vom Bildschirm zu lösen, erkunde ich zur Abwechslung die Umgebung.

Tanja Maljartschuk hat schlechte Nachrichten

Ich befinde mich wieder im ICE, dieses Mal auf dem Rückweg nach Berlin. Gegenüber von mir sitzt Serhij Zhadan, der sich eifrig den Übersetzungen von Hrihorij Skoworodas Texten widmet. In den kommenden Wochen soll ich diese Übersetzungen in meinem Studio vertonen. Serhij ist wie immer fleißig – wie schafft er das nach diesem intensiven Wochenende?

Am Samstag spielten wir in Potsdam. Nach dem Konzert wurden mir Künstler*innen aus Charkiw vorgestellt, deren Werke ich kannte. Ich wusste aber nicht, dass sie letztes Jahr nach Deutschland gezogen sind und inzwischen in Potsdam wohnen. Ein aufdringlicher Journalist unterbrach uns, er wollte unbedingt mehr über die ukrainischen Dichter der 1920er wissen. In jeder seiner Fragen erwähnte er Majakowski und Chlebnikow. Ich hätte ihm bitte erklären sollen, warum man die Namen ihrer ukrainischen Zeitgenossen hier kaum kennt.  Warum kann man nicht über die ukrainische Kultur sprechen, ohne Russland zu nennen?

Am Sonntag waren wir nach Düsseldorf zum Abschluss des Asphalt-Festivals eingeladen. Bei der von mir und Oksana Shchur konzipierten Veranstaltung „Erzähl mir von mir“ hätten wir darüber sprechen sollen, wie sich die Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland in der letzten Zeit verändert hat. Außer Serhij Zhadan hatten wir vier weitere tolle Gäste eingeplant. 

Steffen Dobbert hat die Ukraine mehrmals bereist und spricht darüber mit fundiertem Wissen und großer Leidenschaft. Sein Buch „Ukraine verstehen“ hat mein 18jähriger Sohn zu Weihnachten von seiner Tante geschenkt bekommen. Unsicher, ob er es jemals lesen würde, war ich dennoch überrascht, als er es tatsächlich tat und sehr beeindruckt war. 

Iryna Fingerovas Texte entdeckte ich im vergangenen Jahr. Sie stammt aus Odessa, lebt aber seit 2018 in Sachsen und arbeitet dort als Ärztin. In ihren Essays schreibt sie über ihre Erfahrungen mit vielen ukrainischen Patienten, aber auch darüber, wie es ist, als ukrainische Jüdin in Deutschland zu leben, während ihre Heimat im Krieg ist.

Beatrix Kersten kannte ich bis jetzt nur von ihrer Arbeit. Unter vielen anderen ukrainischen Texten, die sie in den letzten Jahren ins Deutsche übersetzt hat, waren auch die Songtexte aus dem Fokstroty Album. Deren Qualität begeistert mich.

Als Tanja Maljartschuk die Bühne betrat, verstummte ich. Wir hatten uns eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung getroffen und es war offensichtlich, dass es ihr nicht gut ging. Tania erwähnte schreckliche Nachrichten, die sie nicht weiter erzählen durfte. Ich meinte zu wissen, welche Nachrichten das waren. Vor einer Woche wurde die 37-jährige Lwiwer Schriftstellerin Victoria Amelina bei einem Raketenanschlag in Kramatorsk schwer verletzt. Die Ärzte kämpften um ihr Leben, aber es stand schlecht um sie. Tania und ich umarmten uns, während ich mich bemühte, die Tränen zurückzuhalten. 

Das letzte Mal traf ich Victoria vor zwei Jahren auf der Kiewer Buchmesse. Sie war auf dem Weg zu einer Buchpräsentation, ich musste zum Soundcheck. Im März war sie in der Künstlerresidenz im Charkiwer Schriftstellerhaus Slowo zu Gast, in der gleichen Wohnung, in der ich in den letzten zwei Jahren auch viel Zeit verbracht habe. 

Kurz vor Mitternacht erfuhr ich bei Facebook, wovor ich mich gefürchtet hatte: das ukrainische PEN-Zentrum gab Victoria Amelinas Tod bekannt.

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