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Überschwemmungen nach der Zerstörung des Staudamms von Nova Kakhovka.

© REUTERS/Vladyslav Smilianets

Ukrainisches Kriegstagebuch (141): Albina in Bautzen zu sehen, ist seltsam

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

6.6.2023
Diese Woche bin ich in Leipzig in einer Wohnung direkt im Theater untergebracht. Gelegentlich passieren dort Dinge, die so wirken, als wären sie von einem Dramaturgen erdacht worden. Zum Beispiel habe ich heute festgestellt, dass ich nicht der Einzige bin, der die Schlüssel bekommen hat – als ich aus der Duschkabine komme, höre ich Stimmen im Flur. Ich erinnere mich, dass in einer der Mails, die mir vom Theater zugesandt wurden, etwas über Handwerker stand, deren Besuch mit mir abgestimmt werden sollte. Anscheinend wurde der Termin aber dann ohne mich ausgemacht.

Mein erster Impuls ist, sofort hinauszugehen, aber ich habe keine Kleidung und nackt mit den Handwerkern zu diskutieren, würde zwar möglicherweise an modernes Theater erinnern, ist aber definitiv keine besonders kluge Idee. Also bleibe ich im Bad, während da draußen offenbar etwas gemessen wird. Gut, dass ich mein Handy dabeihabe. Auch wenn ich mir letzte Woche vorgenommen habe, mit dem Nachrichten- und Mailslesen erst nach dem Frühstück anzufangen, kann man bei solch einer Situation eine Ausnahme machen.

Als Erstes finde ich die Mail von Katja Garmasch, ich wollte noch gestern darauf antworten, kam aber nicht dazu. Sie ist etwa zur selben Zeit nach Deutschland gekommen wie ich, Mitte der Neunziger, jedoch nicht aus der Ukraine, sondern aus Usbekistan. Heute lebt sie in Köln und ist Journalistin, DJ und Stand-up-Comedian. Dort haben wir Anfang der 2000er oft zusammen osteuropäische Musik aufgelegt und dabei viel getrunken. Katja hat einen tollen Humor und kann gut schreiben, finde ich. In den letzten Jahren hat sie regelmäßig über die Ereignisse in der Ukraine berichtet, fuhr nach Kiew, Tschernobyl und in den Donbass.

Anfang Februar 2022 meldete sie sich bei mir und fragte, ob ich ihr einen der Teenager vorstellen könnte, mit denen wir das Album „New Donbass Symphony“ aufgenommen haben. Die Stimmung in der Ukraine war angespannt, man redete von einer möglichen Kriegseskalation. Ich habe Katja mit der 14-jährigen Albina Bakukha aus der Stadt Mykolajiwka verbunden und wenige Tage später erschien ihr Gespräch in einer deutschen Zeitung.

Wenige Wochen später, als sich die schlimmsten Prognosen bewahrheitet hatten, begann Albina, ein Tagebuch zu führen, was Katja dann ins Deutsche übersetzte. Mykolajiwka wurde ständig beschossen, auch die Schule, wo Albinas Mutter arbeitete und in deren Aula wir im Dezember 2021 unsere Songs zum ersten Mal live gesungen hatten, wurde von russischen Raketen zerstört. Wie viele ihrer Nachbarn hat Albinas Familie die Stadt verlassen. Ende März ist sie nach Deutschland gekommen.

In ihrer Mail fragt Katja, ob ich am 6. Juni zur Verleihung des Civis Medienpreises mitkommen möchte. Albinas Tagebuch, das auf der Webseite der „Sendung mit der Maus“ erschien, wurde dieses Jahr für den Preis nominiert, Albina und sie gehen hin. Leider kann ich die Einladung nicht annehmen, schreibe ich zurück, da ich gerade nicht in Berlin bin, wünsche den beiden aber viel Glück.

Albina habe ich letzten Samstag in Bautzen getroffen und festgestellt, dass ich mich immer noch nicht daran gewöhnt habe, sie dort zu sehen. Nicht einmal zwei Jahre sind vergangen, seit wir in Mykolajiwka die Choreografie für unsere Lieder probten, im Haus ihrer Eltern Borschtsch aßen und mit ihrem Vater anschließend auf der Terrasse Deep Purple aus dem von ihm gebauten Lautsprecher hörten.

Ich bin mit meiner Antwort an Katja Garmasch fertig, die Handwerker sind aber immer noch da und so mache ich Facebook auf. Auf einmal kommt es mir vor, als ob es heute früh nur eine Nachricht geben würde, denn darüber schreiben alle meine Freunde: russland hat in der Nacht den Staudamm in Nova Kakhovka bei Cherson sprengen lassen.

Eine Katastrophe, die man mit Tschernobyl vergleichen kann, ein Ökozid, dessen Folgen schwer vorhersehbar sind. Hundert Quadratkilometer, die überschwemmt werden. Ein weiteres zutiefst schockierendes Verbrechen russlands in seinem Krieg gegen die Ukraine, das einen fassungslos und zunehmend wütend zurücklässt. Aber ist es überhaupt möglich, noch wütender zu sein?

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