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Ausstellungsansicht „Isa Genzken. 75/75“ mit Arbeiten wie „Schauspieler II“, „Leonardo“ und „Nofretete“.

© Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Jens ZieheCourtesy / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die seltsamen Posen des modernen Menschen: Neue Nationalgalerie zeigt 75 Skulpturen von Isa Genzken zu ihrem 75. Geburtstag

Weltempfänger, Paravents, Hyperboloide: Die Neue Nationalgalerie in Berlin gratuliert der berühmten Künstlerin mit einem Parcours durch ihr einzigartiges Werk.

Umgekehrt wäre es perfekt: Wenn Isa Genzken mit den derangierten Schaufensterpuppen begonnen hätte, um am Ende zu ihren eleganten Hyperboloiden zu gelangen, würde das jedem einleuchten. Schönes findet sofort Freunde. Doch der Parcours in der Neuen Nationalgalerie nimmt exakt den anderen Weg. Von der theoretischen Unendlichkeit der schlanken, auf dem Boden ruhenden Körper führt er geradewegs in die Hölle versehrter Figuren in seltsamen Posen und gebrauchten Kleidern. Das muss man erst einmal verarbeiten, um zum Kern des Werkes zu gelangen.

Anfangs herrschte größte Klarheit bei der Künstlerin, die im November ihren 75. Geburtstag feiert. Eine zentrale Protagonistin der gegenwärtigen Kunst, international bekannt und kompromisslos, der das Museum seine gläserne Halle zur Verfügung stellt. „75/75“ heißt die unbedingt sehenswerte Ausstellung, die jedes Lebensjahr der Künstlerin mit einer Arbeit begleitet. Man schreitet sie in Etappen ab, beginnt bei den frühen Werken von 1973, passiert Stationen ihrer Teilnahme an diversen Venedig-Biennalen oder den Documenten in Kassel und endet an neuen Skulpturen namens „Leonardo“, die vertraute Elemente – den Einsatz von Beton und Antennen – wieder aufgreifen.

Die Künstlerin kann auch Kitsch

Auf dem Vorplatz reckt sich eine Rose über acht Meter hoch in die Luft, wie sie 2007 auch in New York vor dem New Museum installiert wurde. Kein Hyperboloid mehr, sondern Hyperrealist, voller Dornen und mit einer Prise Kitsch, vor der sich Genzken nicht fürchtet. Es ist aber auch ein Kommentar: Auf das Plateau der Neuen Nationalgalerie kehrten nach der Sanierung die Skulpturen der internationalen Heroen zurück, der Außenbereich wird von abstrakten Positionen dominiert. Mitten hinein pflanzt die Künstlerin ihre monströse „Pink Rose“ und unterläuft damit den Minimalismus ihrer Kollegen.

Gleichzeitig nimmt Isa Genzken eine Positionsbestimmung vor. Die Arbeit im urbanen Raum schafft eine Verbindung zwischen drinnen und draußen, Blickachsen und eine Referenz. Schließlich hat Mies van der Rohe seinen Pavillon transparent gebaut, damit sich beides ineinander verschränkt. Es erklärt, weshalb Genzken, die Mitte der neunziger Jahre von Köln nach Berlin umzog, das Haus seit Langem bespielen möchte: Architektur, Proportionen und Raum sind auch ihr Thema.

Mit jeder Dekade fließen ein paar mehr Materialien aus dem Alltag in Genzkens Arbeit

Es beginnt in den 1970ern, während des Studiums an der Kunstakademie Düsseldorf, wo die Ellipsoiden und Hyperboloiden entstehen. Bis zu zwölf Meter lang, von Physikern berechnet, von der Künstlerin aufwändig hergestellt und farbig gefasst. Wo immer sie in der Vergangenheit gezeigt wurden, hing ein schwarz-weißes Foto, das sie selbst mit einem der Stäbe in den Händen zeigt – als wolle sie auf einem Seil balancieren.

Ein Abgleich zwischen der artifiziellen Form und dem eigenen menschlichen Körper: Hier findet er noch in zwei separaten Sphären statt. Später – und allein schon für diese Einsicht ist der Parcours optimal – hebt Genzken diese Trennung auf. Ihre legendären „Weltempfänger“, für die sie Radioantennen in Betonblöcke steckt, sind Vermittler zwischen Sender und Empfänger. Dann stellt sie architektonische Fragmente auf Sockel. Man steht davor und schaut in Räume, die sich wie Puppenstuben aus Beton zum Betrachter öffnen. Es folgen Fensterrahmen, durch die sich Realität vermittelt. 1991 wechselt Genzken zu farbigem, diffus transparentem Epoxid. Daraus entstehen „Paravents“, die nichts verdecken: Man blickt durch sie hindurch und wird erneut mit der Wirklichkeit konfrontiert.

Überhaupt vermeidet Isa Genzken, die auf den Wolfgang-Hahn-Preis (2002) und zahlreiche weitere Auszeichnungen zurückblickt, den Eindruck purer Ästhetik. Mit jeder Dekade fließen ein paar mehr Materialien aus dem Alltag in ihre Arbeit: Spiegel- und Klebefolie für ihre Stelen, die Hochhäuser simulieren und aus den Reisen der Künstlerin nach New York resultieren. Später die sogenannten Schauspieler, von denen einige in der Soloschau zu sehen sind; Schaufensterpuppen, oft in Genzkens abgelegter Kleidung, die auf den Menschen verweisen: seine Borniertheit, Hilflosigkeit, Verletzlichkeit.

Es tauchen mehrere Abgüsse der Nofretete auf, die von der Künstlerin ohne Respekt verfremdet werden - gern mit Sonnenbrille, was aber mehr als eine Albernheit ist. Die zeitlose Schönheit der Ägypterin adaptiert sich mühelos in jede Saison. Dazu CD-Rohlinge und Fotografien mit popkulturellem Bezug auf, wie „Wind (B)“: eine Skulptur als Hommage an Michael Jackson, die 2009 in Berlin zu sehen war. Damals zeigten Genzkens langjähriger Galerist Daniel Buchholz und die Galerie Neugerriemschneider aktuelle Arbeiten. Letztere bietet auch jetzt eine vertiefende Ausstellung und zeigt die dystopischen Assemblagen der Serie „Empire/Vampire“, die in der Neuen Nationalgalerie mit wenigen Exempeln vertreten sind.

Sie alle dokumentieren, wie präzise und intuitiv Isa Genzken aus überwiegend ärmlichen Materialien ebenso assoziative wie anziehende Arbeiten kreiert. Am Ende stimmt der Parcours doch, weil er zeigt, dass ihr Werk stetig souveräner wird.

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