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Kultur: Orpheus in der Oberwelt

Zwischen allen Stühlen der Neuen Musik sitzt es sich zugig: zum 80. Geburtstag des Komponisten Hans Werner Henze

Es fällt schwer, die Episode nicht psychoanalytisch zu drehen und zu wenden. Immer wenn das fünfjährige Hänschen seinen Willen nicht kriegte und sich brüllend auf den Boden warf, packte ihn sein Vater, ein Volkssschullehrer, und steckte ihn unter eine Decke. Dort, im „molligen Dunkel“, beruhigte sich der kleine Teufelsbraten wieder. Allein sein und beschützt, geliebt werden und verkannt – das wollte er.

Der Schauplatz ist Gütersloh/Westfalen um 1930 herum, und der Jähzorn sollte im Leben Henzes so ausschlaggebend bleiben wie sein neurotisches Verhältnis zum Rampenlicht oder das um acht betrübliche Millimeter kürzere linke Bein. Bewundert, verehrt, in alle Himmel gehoben, mit Ämtern und Preisen überhäuft für ein Werk, das den Menschen so vielgesichtig feiert, so nervös, so dionysisch wie kein anderes zeitgenössisches – ja. Aber sich dabei auch als Person preisgeben, die selbstgebauten Flucht- und Schutzräume verlassen, das ist Henze nicht erst im Alter schwer gefallen.

Am Pult litt er dermaßen unter „Prä- Konzert-Lampenfieber“ und „Post-Konzert-Albträumen“, dass er das Dirigieren schließlich aufgeben musste. Und mutterseelenallein ein halbleeres Lokal zu betreten, davor graute noch dem 70-Jährigen: „Dann guckt jeder, und mich peinigt das Gefühl, die schauen alle, weil ich so dick bin oder so kahlköpfig.“ Komplexe eines nachkriegsdeutschen Homosexuellen.

Die Male, da Henze sich zuletzt verbeugte – in Luzern zur Uraufführung seiner Zehnten unter Simon Rattle, bei den Salzburger Festspielen 2003, als mit „L’Upupa“ seine 19. Oper aus der Taufe gehoben wurde –, erlebte man ihn als gedrungene, buddhaeske Gestalt, wie in Porzellan gegossen. Parkinson, gewiss. Und ein angeborener Widerwille gegen alles Asketische. Die Notwendigkeit sich zu panzern aber, mit diesem Dasein gegen dieses Dasein, sie ist ihm auch Überlebensmittel. Ein leibgewordenes Beharren auf der eigenen Existenz.

Neben Karlheinz Stockhausen gilt Henze als der bedeutendste deutsche Komponist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und als derjenige, der zeitlebens am heftigsten attackiert, befehdet und geächtet worden ist. Ihm gebührt der Platz zwischen allen Stühlen: unbequem, zugig und bestenfalls mit Koketterie oder Sarkasmus ein wenig zu polstern. Dem breiten Publikum klingt Henzes Musik bis heute exaltiert in den Ohren und fiebrig-schrill, die Avantgarde hingegen geißelte früh seinen Hang zum Kulinarischen, jene „Sehnsucht nach dem vollen, wilden Wohlklang“. Der Neue-Musik-Guru Ulrich Dibelius etwa hielt ihm vor, er verrenne sich musikalisch „ins Dickicht assoziationshaltiger Bedeutungsfelder“, Boulez nannte ihn einen „lackierten Friseur“. Beides ist nicht ganz falsch. Durch Henzes Musik weht stets eine süße Wärme, eine leichte Schwüle. Die Stücke mögen sich ins Atonale spreizen, furios mit Techniken und Traditionen jonglieren, anprangern, schreien, dröhnend schweigen: Ihr Schmerz bleibt doch immer schmerzlich.

Wo Stockhausens Werke längst ins Kosmisch-Esoterische schießen, wo Helmut Lachenmann materialweise an den Grenzen des Hörbaren herumbosselt, da beschwört Henze die Oberfläche als Ort der Verheißung. Ein Belcantist. Ein Schönredner aus Verzweiflung. Und Überzeugung. Kunst, sagt Henze, muss trösten können.

Traumatisch seine Erfahrungen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Noch traumatischer, als 1957 in Donaueschingen die „Nachtstücke und Arien“ uraufgeführt werden: „Nach den ersten Takten schon haben sich Pierre, Gigi und Karlheinz gemeinsam erhoben und sind rausgegangen“, klagte Henze vor zwei Jahren in der „Zeit“. Als sei’s gestern gewesen. Als wünschte er sich bis heute nichts sehnlicher als: dazuzugehören. Zu den ästhetischen Störenfrieden wie zum großen Publikum. Diese Wunde hat sich nie geschlossen. Jene Boulez-Nono-Stockhausen-Wunde, die ihn in ein zutiefst romantisches Selbstverständnis stürzte: „Der Kummer über zerfetzte Gefühle“, so soufliert er sich selbst, „produziert ja sehr brauchbare Noten.“

Hans Werner Henze wird am 1. Juli 1926 in kleinbürgerlichen Verhältnissen geboren, es ist die Zeit des aufschäumenden Nationalsozialismus, der Vater tritt in die NSDAP ein und kehrt aus dem Krieg nicht zurück. Mozart, notiert Henze später, sei damals sein „Wegweiser ins Freie“ gewesen, Mozart am Volksempfänger. Henze studiert bei Wolfgang Fortner und komponiert in neo-klasssizistischem Stil mit Anleihen bei Strawinsky und Hindemith. Das Violinkonzert von 1947 wie auch seine erste Oper „Boulevard Solitude“ (1951) entdecken außerdem den Serialismus – eine Mesalliance, die den Dogmatikern auf der einen wie auf der anderen Seite schwer aufstößt. 1953 geht Henze nach Italien, die „Zeit der Ariosi“ beginnt, das Arbeitsleben an der Seite Ingeborg Bachmanns, die Projekte mit W.H. Auden und Edward Bond. Befreit vom Mief der Adenauer-BRD erobert sich seine Musik neue expressive Klangwelten. Henze ist glänzend im Geschäft, ein Opernauftrag jagt den nächsten („Elegie für junge Liebende“, „Die Bassariden“): Das deutsche Wirtschaftswunder hat seinen Komponisten gefunden.

Damit ist es jäh zu Ende, als Henze sich politisch zu engagieren beginnt. Er tritt in die KPI ein, nimmt Rudi Dutschke nach dem Attentat bei sich auf, liebäugelt mit Kuba. Man schimpft ihn einen Gutwetter-Revoluzzer, belächelt ihn als „Orpheus der APO“. Das Establishment wendet sich ab, spätestens, als es 1968 bei der Uraufführung seines Oratoriums „Das Floß der Medusa“ in Hamburg zum Skandal kommt: Das Opus ist Che Guevara gewidmet, am Dirigentenpult steckt eine rote Fahne, der Abend wird abgebrochen – und die Olympia-Oper für München 1972 gleich mit abgesagt.

Ästhetisch hat das Politische in Henzes Œuvre schroffere Töne zur Folge. Seine lyrischen Neigungen verkapseln sich, der Gesang als „Manifestation des Lebens schlechthin“ wagt Experimente („We come to the River“, 1976). Seit den Streichquartetten und Symphonien der frühen Achtziger tritt Henze hier wieder den Rückzug an, besinnt sich – und das ist nicht die einzige Parallele zu Richard Strauss! – auf Rekonstruktionen, Bearbeitungen, aufs Subversive im Traditionellen. 1988 gründet er die Münchner Biennale für neues Musiktheater, ein Jahr später die Gütersloher Sommerakademie. Er komponiert ein Requiem, schreibt die Symphonien 7, 8 und 9 (nach Anna Seghers „Siebtem Kreuz“) sowie, berührend eloquent, seine Autobiografie „Reiselieder mit böhmischen Quinten“ und bringt 1997 in München mit „Venus und Adonis“ die bislang vorletzte Oper heraus.

Der Außenseiter auf dem Klassikersockel. Der letzte deutsche Kunstfürst südlich von Rom. Einer, der es liebt, „wie ein westfälischer Bauer“ durch seinen Olivenhain zu stapfen und nach dem Wiedehopf Ausschau zu halten. Ein Hedonist und brennend Harmoniesüchtiger. Die Arbeit, so wollte Henze es der Bachmann einst hinter die Ohren schreiben, sei die „Wohnstätte der Seele, die von niemandem besetzt werden darf“. Daraufhin telegrafiert sie zurück: „Du bist ein Monstrum, voller Bewunderung – Ingeborg“.

Henzes jüngste Werke sind ein Bekenntnis zu dieser Monströsität. Die „Upupa“- Oper, indem sie – unter allerlei exotischem Tand verborgen – vom Künstlersein in dieser Zeit handelt und von der Sehnsucht nach Bruderschaft. Die zehnte Symphonie, indem sie einem radikalen Individualismus huldigt. Ihr Finale schwelgt in einer Klanglichkeit, die „ganz weit entfernt ist von den Schrecken und Kümmernissen der Zeit, in der wir leben und sterben müssen und zu der einem wie mir nichts anderes mehr einfällt als die Ablehnung, die Abwendung, die Absage, der Abgesang, der Abschied“. Der Elfenbeinturm als höchstes erreichbares Politikum.

Man bezichtigt Hans Werner Henze gern der „Komplizenschaft“: weltanschaulich, künstlerisch und was die Geschäftigkeit des Musikbetriebs betrifft. Der Westfale hat es verstanden, sich hinzugeben, sucht Nähe, Liebe, Ruhm, um keinen geringen Preis. Und er findet, was er sucht. Das hat ihn zeitlebens irritiert. Lieber wäre er im „molligen Dunkel“ vielleicht Pulcinella gewesen, der arme Tölpel aus der Commedia dell’Arte, den alle Welt schlecht behandelt. Wenn die Gesundheit es zulässt, so heißt es, schreibt Henze für München noch eine Pulcinella-Oper. Heute feiert er erst einmal seinen 80. Geburtstag.

Im Rahmen der Salzburger Festspiele wird am 26. August die Neufassung von Henzes Musikdrama „Gogo no Eiko“ („Das verratene Meer“) nach dem Roman von Yukio Mishima uraufgeführt. Das Libretto schrieb Hans-Ulrich Treichel, Gerd Albrecht dirigiert das Orchestra Nazionale della RAI Torino. Am 31. August ist

diese Produktion – auf ausdrücklichen Wunsch des Komponisten, der an diesem Tag anwesend sein wird – in der Berliner Philharmonie zu hören.

Außerdem haben Michael Kerstan und Clemens Wolken im Henschel-Verlag eine neue Monografie herausgegegen: Henze, Komponist der Gegenwart. 255 Seiten, 34,90 Euro.

Christine Lemke-Matwey

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