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Paris und Moskau, im Duft vereint: Wohlgeruch zweier Welten

Karl Schlögel schnuppert Parfums in Ost und West.

Karl Schlögel ist der Flaneur des „sowjetischen Jahrhunderts“, so der Titel seines vorangehenden Buches; und aus diesem ergab sich „Der Duft der Imperien“, wie sein neues Werk überschrieben ist. Schlögel spricht von einem „Duft, der überall da in der Luft lag, wo es in der Sowjetunion besonders festlich zuging“, und fügt hinzu: „Diesem Duft nachzugehen, vielleicht die Marke ausfindig zu machen, stand am Anfang, und alles Weitere ergab sich von selbst.“

Immer der Nase nach

Von selbst? Schlögel wurde zielstrebig zum Experten. In gewohnt meisterlicher Weise stellt er das scheinbar Unvereinbare nebeneinander und lässt den Leser erkennen, wie vereinbar es in Wirklichkeit war. Denn „Chanel No. 5“ und „Rotes Moskau“ erweisen sich beide als Abkömmlinge desselben Parfums der Zarenzeit. Noch verblüffender ist die Parallelität der beiden Protagonistinnen, Gabrielle „Coco“ Chanel in Paris und Polina Shemtschushina(-Molotowa) in Moskau. Dass Schlögel mit dem sowjetischen Alltag ungleich vertrauter ist, versteht sich; aber hier ist eben auch Forschungsarbeit zu leisten, die in Bezug auf Paris und Coco Chanel längst geleistet worden ist.

Molotows Frau ging in die Verbannung

Am kaum bekannten Lebensweg der Ehefrau des engsten Vertrauten Stalins, des langjährigen Außenministers Wjatscheslaw Molotow, fächert Schlögel die sowjetische Geschichte auf. Polina Shemtschushina machte Karriere in der Parfümindustrie; bereits im Alter von 33 Jahren wurde sie Direktorin des einschlägigen „Trusts“. 1939 wurde sie „die erste und einzige Frau als Volkskommissarin in der Geschichte der UdSSR“. Dann geriet sie in den Fokus des NKWD, wie ihn unter Stalin jede/-n treffen konnte. Schlögel meint die Ursache in den Beziehungen zu erkennen, die die Shemtschushina insbesondere zur Frau des US-Botschafters gepflegt hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neue Vorwürfe erhoben, und sie wurde 1949 zu fünf Jahren Verbannung verurteilt, aus der sie erst Stalins Tod 1953 erlöste. Und doch blieb sie „bis zum Ende ihrer Tage (...) eine entschiedene, ja fanatische Stalinistin“.

Geruch kam auch aus Kolyma

Schlögel kennt die Geschichte des Jahrhunderts der Extreme zu gut, als dass er sie bei dem vermeintlich leichten Sujet des Duftes außer Acht lassen könnte. Ein bedrückendes Kapitel widmet er „der anderen Welt: Der Rauch der Krematorien und der Geruch der Kolyma“. Letzteres ist jener riesige Lagerkomplex, über den Warlam Schalamow in seinen „Erzählungen“ Furchtbares berichtet hat. Und Schlögel spürt Unbekanntes auf: etwa, dass die Gestaltung des Flakons des sowjetischen „Eau de Cologne Sewerny – Nord“ auf keinen Geringeren als Kasimir Malewitsch zurückgeht.

Am Ende träumt Schlögel von einem „Weltmuseum der Wohlgerüche“, ob in Frankreich oder Moskau; „nun, da die unterirdischen, unbewussten Beziehungen freiliegen“. Sie liegen frei erst dank des unermüdlichen (Duft-)Spurensuchers Karl Schlögel.

Karl Schlögel: Der Duft der Imperien. Chanel No. 5 und Rotes Moskau. Hanser Verlag, München 2020. 221 S., 23 €.

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